Versmold. Neun Jahre lang lagen die Geschicke der Nölke-Gruppe in seinen Händen. Dr. Götz Pieper war von 1994 bis 2003 Vorsitzender der Geschäftsführung des Familienunternehmens, bis 2009 Vorsitzender des Beirates. Seitdem verfolgt der Versmolder die Entwicklung des Unternehmens zwar nur noch aus der Ferne, aber nicht weniger interessiert. Seit der Übernahme des Betriebs durch die Zur-Mühlen-Gruppe im Dezember waren es vor allem die im Haller Kreisblatt zu lesenden Aussagen der neuen Geschäftsführung, die den früheren Nölke-Chef mit dem Kopf schütteln ließen. Denn seiner Ansicht nach ist die Entlassung von 150 Mitarbeitern und die Auslagerung einzelner Abteilungen nicht alternativlos, wie es Zur-Mühlen-Geschäftsführer Axel Knau im März im Haller-Kreisblatt-Interview gesagt hatte. Im Gespräch mit HK-Redakteurin Silke Derkum erklärt Götz Pieper (71), welche Vorteile Zur Mühlen und dessen Eigentümer Clemens Tönnies durch den Nölke-Kauf haben und wie Arbeitsplätze hätten gerettet werden können.
Herr Dr. Pieper, warum melden Sie sich nach all den Jahren als Ruheständler wieder zu Wort?
DR. GÖTZ PIEPER: Das ist eine längere Entwicklung. Da war zunächst die Betriebsschließung des Nölke-Werks Waren, die Herr Knau, laut Mitarbeitern, in weniger als fünf Minuten verkündet haben soll, ohne sich als neuer Geschäftsführer von Nölke vorzustellen. Entsprechend soll sich die Betriebsversammlung bei Nölke in Versmold abgespielt haben, in der die Entlassung von 150 Mitarbeitern verkündet wurde - wobei einigen Mitarbeitern die Kündigung angeblich vor Ort in die Hand gedrückt wurde. Dann teilt Clemens Tönnies die Schließung des Werkes Menzefricke in einem Nebensatz über das Haller Kreisblatt mit. Dies zusammen mit einigen anderen Dingen zeigt, dass man sich von der Unternehmenskultur und den Werten, die sich bei Nölke über die Jahrzehnte entwickelt haben, innerhalb von vier bis fünf Monaten verabschiedet hat.
Welche Werte waren denn bei Nölke besonders wichtig?
PIEPER: Nölke stand zum Beispiel immer dafür, möglichst nur mit eigenen Mitarbeitern zu produzieren, Nölke wollte nie eine Zweiklassengesellschaft. Das hat sicherlich den ein oder anderen Euro gekostet, hat aber auch Identifikation mit und Loyalität zum Unternehmen gebracht. Man war stolz, ein Nölkianer zu sein. So konnte sich eine Kultur der Sorgfalt oder Null-Fehler-Toleranz entwickeln. Dies ist insbesondere in Hinblick auf Gutfried wichtig, denn die Marke ist ein Qualitätsversprechen. Wenn das ein jahrzehntelanger Gutfriedfan und Gutfried-Intensivverwender sagt, dann nicht ohne Bedacht. Ich habe in den letzten Monaten Qualitätsschwankungen bemerkt, die nach meinen Maßstäben nicht tolerierbar sind.
Und Sie glauben, dass es möglich gewesen wäre, weiterhin auf die eigenen Mitarbeiter zu setzen?
PIEPER: Ja, obwohl es zweifelsfrei richtig ist, dass Clemens Tönnies ein wirtschaftlich schwer angeschlagenes Unternehmen gekauft hat und dass man etwas tun musste.
Das waren zunächst die Schließungen der Nölke-Werke Waren, Wusterhausen und Menzefricke.
PIEPER: Ja, und das können mutmaßlich nur Tönnies und Zur Mühlen. Nach meiner Einschätzung ist nur die Zur-Mühlen-Gruppe in der Lage, die Produktion aus diesen Werken kurzfristig in andere zur Gruppe gehörende Betriebe zu verlagern.
Können Sie das erklären?
PIEPER: Das Werk Menzefricke ist eine Industrieruine, da kann man in der Tat nicht weiter produzieren. Aber hätte zum Beispiel der Heristo-Konzern Nölke 2012 tatsächlich gekauft, hätte er ein Problem gehabt. Er hätte die Rohwurstproduktion von Menzefricke nicht einfach in seinen Betrieb Stockmeyer auslagern können, denn dort gibt es keine entsprechend freien Kapazitäten. Im Zur-Mühlen-Betrieb Schulte in Dissen und/oder Redlefsen in Satrup gibt es die aber. Mit Verlagerung der ganzen oder teilweisen Rohwurstproduktion von Menzefricke nach Dissen kann man auch noch ein Schulte-Problem zumindest teilweise mitlösen.
Wird es denn tatsächlich so gemacht?
PIEPER: Das vermute ich. Denn es kann ja kein Zufall sein, dass eine Woche nach Bekanntgabe der Menzefricke-Schließung der lang andauernde Kampf um die Arbeitsplätze bei Schulte beendet war.
Also alles zum Vorteil von Zur Mühlen?
PIEPER: Ja, denn Standortschließungen bei gleichzeitiger Verlagerung der Produktion in vorhandene Werke generieren erhebliche Synergieeffekte. Weil die sogenannten Gemeinkosten wie zum Beispiel Bewachung, Verwaltung, Abschreibungen, Reinigung, Gehälter von Führungspersonal, usw. entfallen, andererseits die Deckungsbeiträge aus dem Verkauf der Erzeugnisse ja erhalten bleiben.
Zur Mühlen muss nichts hinzubuttern?
PIEPER: Nein, die Synergieeffekte aus der Stilllegung dieser drei Standorte sowie aus der Freisetzung von Mitarbeitern in Vertrieb, Marketing und Verwaltung bei Nölke in Versmold, die sind genauso hoch, wahrscheinlich aber höher als die gegenwärtigen Verluste bei Nölke. Einmalkosten der Stilllegung wie zum Beispiel Sozialplankosten sind dabei natürlich nicht berücksichtigt.
Der Kauf eines angeschlagenen Unternehmens wie Nölke ist für einen großen Konzern wie Zur Mühlen also sinnvoll.
PIEPER: Nach Lage der Dinge geht es Zur Mühlen 2016 mit Nölke wirtschaftlich besser als ohne Nölke, ohne dass ein weiterer Handschlag getan werden muss, außer die drei Betriebe zu schließen und die Produktion zu verlagern. Und dadurch verringert sich aus meiner Sicht auch der Handlungszwang für die Kündigungen in Versmold. Und es stellt sich die Frage, ob wirklich alles so bitter nötig war, wie Herr Knau dem HK gesagt hat.
Aber dass es bei Nölke nicht gut läuft, ist doch unbestritten?
PIEPER: Natürlich, und diese Probleme müssen auch angegangen werden. Aber dazu muss man wissen, wo die Probleme liegen. Nölke hat in erster Linie kein Kostenproblem, sondern ein Absatzproblem.
Dass Nölke-Produkte vor einigen Jahren unter anderem bei Lidl ausgelistet wurden, ist ja bekannt.
PIEPER: Das wäre ein Beispiel dafür. Schlimmer ist aber die Situation bei Gutfried. Laut der GfK (Gesellschaft für Konsumforschung) lag der Marktanteil von Gutfried im Lebensmittelhandel ohne Discount vor zehn Jahren bei circa 25 Prozent, heute sind es noch etwa 12 bis 13 Prozent.
Es muss also einiges an freien Kapazitäten im Nölke-Werk geben?
PIEPER: Mit Sicherheit. Das Werk an der Ziegeleistraße war ausgelegt für die Produktion von etwa 3500 Monatstonnen. In 2014 sind es sicherlich nicht mehr als 2000 im Durchschnitt gewesen. Und das in einem Werk, das im Hinblick auf die Produktionsabläufe immer noch hochmodern ist.
Was bedeutet das nun für die gekündigten Mitarbeiter?
PIEPER: Wenn man diese Hintergründe alle kennt, dann wäre es doch zum Beispiel eine Maßnahme gewesen, Brühwurst-, besonders Geflügelwurstprodukte, aus den Zur-Mühlen-Betrieben in Delmenhorst und/oder Böklund in den Betrieb nach Versmold zu verlagern. Und wenn man sich dann an diesen beiden Standorten von entsprechend vielen Leiharbeitern getrennt hätte, hätte man die Menzefricke-Mitarbeiter bei Nölke beschäftigen können und sie nicht entlassen müssen.
Das hört sich fast zu einfach an.
PIEPER: Das wäre von den Abläufen (hochmoderner Betrieb) her sinnvoll gewesen, von den Lohnkosten her nicht unbedingt, weil Leiharbeit sicher preiswerter ist.
Deshalb will man ja auch die Kommissionierung auslagern.
PIEPER: Auch für die 60 Mitarbeiter aus der Kommissionierung hätte es eine Lösung gegeben. Die von Herrn Knau gewählte Formulierung, dass die Kommissionierung "ausgelagert" werden soll, ist zumindest missverständlich. Das würde ja bedeuten, dass zukünftig an ganz anderer Stelle kommissioniert wird. Das ist aber nicht der Fall, denn das macht auch überhaupt keinen Sinn. Die Kommissionen (Aufträge) werden aus dem Fertigwarenlager heraus zusammengestellt. Und das Fertigwarenlager ist dem Kommissionierbereich direkt vorgelagert. Fakt ist: Dieselbe Arbeit machen andere Menschen, seien es Leih- oder Werkvertragsarbeiter. Und dass diese Externen das besser machen als die eigenen Mitarbeiter, die in diesen Räumen zum Teil seit Inbetriebnahme des Werks 1998 arbeiten, das ist eigentlich nicht vorstellbar.
Gerade dort soll die Stimmung auch besonders mies sein.
PIEPER: Ich habe sogar gehört, dass bereits gekündigte Nölke-Leute Leiharbeiter anlernen müssen, damit diese demnächst die Arbeit der Gekündigten übernehmen können. Dass dann die Stimmung im Unternehmen sinkt und der Krankenstand steigt, das ist wohl für fast jeden nachvollziehbar.
Nach Ihrer Theorie hätte man die Mitarbeiter von Menzefricke und aus der Kommissionierung also behalten können?
PIEPER: In der Tat hätte man diese 120 Stellen retten können.
Aber Sie sprachen vorhin selbst von den höheren Lohnkosten.
PIEPER: Sie können davon ausgehen, dass die Differenz zwischen einem Nölke-Mitarbeiter und einem Leiharbeiter maximal bei fünf Euro pro Stunde liegt. Bei 120 Personen wären das im Jahr circa eine Million Euro mehr an Lohnkosten.
Das ist viel Geld.
PIEPER: Ja, aber mit einer Million löst man nicht mal ansatzweise Nölkes Probleme. Die haben mit den zurückgehenden Verkaufszahlen von Gutfried und den Auslistungen im Discountbereich zu tun. Würde man da wieder das alte Niveau erreichen, würde man Gewinnbeiträge generieren, die diese eine Million Lohnkosten um ein Vielfaches übersteigen würden. Im Übrigen verweise ich in diesem Zusammenhang noch einmal auf die millionenschweren Synergieeffekte aus den Standortschließungen.
Was würden Sie der neuen Geschäftsführung raten?
PIEPER: Ich bin nicht in der Position, Ratschläge zu erteilen. Aber ich würde mir wünschen, dass die handelnden Personen alle Kraft und Energie auf Gutfried konzentrieren und den Betriebsfrieden wieder herstellen, indem sie auf Leiharbeiter verzichten. Clemens Tönnies hat gegenüber der Presse gesagt, dass er um jeden Arbeitsplatz kämpfen will und dass er eine besondere Beziehung zu Versmold hat. Beides habe ich bisher nicht erkennen können. Man kann es auch anders ausdrücken. Clemens Tönnies ist ja bekanntlich Aufsichtsratschef von Bundesligist Schalke 04. Nach der enttäuschend verlaufenen Saison hieß es, man müsse die Herzen der Fußballfans zurückgewinnen. Auf Nölke übertragen heißt das: Man muss die Herzen der Mitarbeiter, des Handels und der Endverbraucher zurückgewinnen.