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Channel: Haller Kreisblatt
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Viel mehr als Folklore

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Odonjavkhlan Dorlig, dessen Schamanenname Okoo ist, sitzt im Wohnzimmer der Familie Tudev und lächelt herzlich. In Jogginghose und Pullover wirkt er auf den ersten Blick nicht wie jemand, der eine Verbindung zur Geisterwelt hat. „Diese Gabe haben nur ganz wenige Leute. Okoo hat sie von seinem Vater geerbt”, erklärt Tumurbaatar Tudev, bei dem der Schamane drei Wochen zu Gast ist. In der Mongolei gehört der Schamanismus zum Alltag. Reisende, die in der mongolischen Weite unterwegs sind, entdecken alle paar Kilometer mit blauen Tüchern geschmückte Steinhügel, an denen die Mongolen um Fürsprache bitten. Schamanen, erklärt Tudev, werden häufig aufgesucht, wenn es um Lebensberatung geht oder um Fragen der Gesundheit. Odonjavkhlan Dorlig sei in der Mongolei ein gefragter Mann. „Wir kennen uns noch aus der Kindheit”, erklärt Tudev. Als er einem deutschen Arbeitskollegen erzählte, dass er mit einem echten Schamanen befreundet sei, war dieser Feuer und Flamme und bat Dorlig, nach Deutschland zu kommen, um die Genesung seiner erkrankten Ehefrau mit Hilfe schamanischer Rituale zu beschleunigen. Okoo wird nun vom deutschen Bekanntenkreis der Tudevs in Anspruch genommen. Am Freitag ist er bei einer Meditationsgruppe in Brockhagen eingeladen, wo es ein schamanisches Feuerritual in freier Natur geben wird. Auch fürs Haller Kreisblatt lässt er sich nicht lange bitten. Denn es ist einfacher zu sehen, was ein Schamane macht, als es zu erklären. Okoo verlässt den Raum und kommt kurz darauf in einem seidenen Mantel und schweren Stiefeln zurück. „Die Kleidung hilft ihm, den Zustand zu erreichen, in dem er sich in Trance versetzen kann”, sagt Tudev. Genauso wichtig sind mehrere Amulette, die der Schamane zum Teil von seinem Vater geerbt hat. Bänder, Glocken, Holzperlenketten und bunte Tücher gehören ebenso dazu. Odonjavkhlan Dorlig setzt sich eine Kappe auf, von der dicke schwarze Kordeln herabhängen und das Gesicht verdecken. „Das ist wichtig, damit er nicht abgelenkt wird”, sagt Tumurbaatar Tudev. Und dann geht es los. Mitten im Gästezimmer der Tudevs schlägt Okoo eine mit Hirschleder bespannte Trommel und stimmt einen monotonen Gesang an. Dann steht er plötzlich auf und setzt sich eine andere Kopfbedeckung auf, die ebenso das Gesicht verdeckt, aber zusätzlich von einem stilisierten Geweih gekrönt wird. Der Rhythmus auf der Trommel wird schneller und dann erhebt sich der Schamane vom Stuhl, taumelt scheinbar blind im Zimmer umher und lässt sich in den Schneidersitz fallen. Nun sei er in Trance, erklärt Tudev. Und der Schamane spricht mit veränderter Stimme, schnaubt und gibt ein tiefes Lachen von sich. Dann dürfen die Anwesenden - inzwischen hat sich ein staunender Arbeitskollege Tudevs eingefunden - Fragen an den Schamanen richten. Der drückt die Hände der Ratsuchenden, streicht ihnen mit einem Stab aus Hirschhorn über Arme und Nacken und sagt dann ein paar Sätze über das Leben seiner Klienten, die Tumurbaatar Tudev aus dem Mongolischen übersetzt. Okoo steht auf, taumelt noch ein wenig und wird dann von seinem Gastgeber auf einen Stuhl dirigiert. Langsam scheint er zu sich zu kommen. Er nimmt den schweren Kopfschmuck ab, wirkt erschöpft und atmet tief durch. Dann lächelt er wieder, als er die Anwesenden im Raum wahrnimmt und begrüßt Tudevs Arbeitskollegen, der erst hinzugekommen war, als Okoo schon in Trance war. „Er kann sich an nichts erinnern”, erklärt Tudev. Die Gäste sind beeindruckt. „Und? Wie hat es Ihnen gefallen?”, fragt die Reporterin den eher wortkargen Arbeitskollegen. „Schaden”, sagt der, „kann es auf jeden Fall nicht.” ¦ Wer Interesse an der Kunst des Schamanen hat, kann sich bei den Tudevs informieren, ` (01 76) 32 43 05 65.

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