Sie wirkt ausgesprochen zerbrechlich. Was allen sofort auffällt: sie ist dünn - viel zu dünn eigentlich. Aber dann fängt sie an zu erzählen. Schon mit dem ersten Satz legt diese zarte Person ihre Hände um den Hals ihrer Zuhörer und drückt zu. Und das mit einer Brutalität, die richtig weh tut.
„Ich war neun Jahre alt, als meine Mutter beschlossen hat, dass sie das Leben nicht mehr mag”, beginnt Lilly Lindner von sich zu erzählen. Und sofort war die Richtung klar: Die als Lesung angekündigte Veranstaltung würde alles andere als leichte Kost werden. Es war selten so still in der Aula der Gesamtschule. Und es war selten so eng und dunkel in dem eigentlich großzügigen und hellen Raum.
Fast tonlos beschreibt Lilly Lindner, wie ihre Mama sie am Abend vor ihrem Selbstmord auf den Arm genommen hat, ganz fest drückte,und zusammen mit ihrer gelben Giraffe ins Bett legte. „Schlaf gut, meine Kleine”, hatte die Mama gesagt und ihr gewünscht, dass sie jeden Morgen mit einem Lächeln aufwachen möge. Und dann sprang die damals 32-jährige Frau aus dem Fenster im 11. Stock. Und ließ ihr kleines Mädchen bei einem herzlosen Vater zurück.
Lilly Lindner ist heute 28 Jahre alt und hat mehr erlebt, als ein Mensch ertragen kann. Magersucht, Gewalt und Prostitution beherrschten ihre Jugendzeit. Der Wunsch, geliebt zu werden, wurde zur Sucht. Lilly Lindner hat überlebt. Ihr Körper hat überlebt - wenn auch ganz knapp. „Ich konnte meine Seele nicht in meinem Körper halten”, gibt sie zu.
Die junge Frau hat ihr Leben in mehreren Büchern verarbeitet. Schon mit 15 Jahren begann sie zu schreiben. Aus dem Roman »Bevor ich falle« und der Biografie »Splitterfasernackt« berichtet sie gestern Morgen in der Gesamtschule. „Mädchen wissen alles”, beginnt sie über den Einstieg in den Teufelskreis Magersucht zu berichten. „Sie teilen sich die Wimperntusche und übersehen Schönheitsfehler nicht.” Frauen wüssten immer, wo es langgeht und wenn nicht, dann schlafen sie eben mit dem Typen, der die Straßenkarte hat. Sie setzen Kinder in die Welt und tragen am Tag nach der Geburt schon wieder Größe 32. Sie stecken ihre Brüste in Push-up-BH und schnauzen dann jeden Mann an, der ihnen auf den Busen glotzt. „Sowas braucht kein Mensch”, macht Lilly Linder den Irrsinn des Schönheitswahns deutlich.
Die Autorin berichtet auch von ihrem Vater, der von der Bulimie und den autoaggressiven Selbstverletzungen seiner Tochter nichts mitbekommt. Sie erzählt von seiner mehrfach schönheitsoperierten Geliebten, die ihren Seelenschmerz hinter einem perfekten Lächeln versteckt. Und sie berichtet, dass sie als Siebzehnjährige entführt und von mehreren Männern einige Tage lang gefangen gehalten und vergewaltigt wurde. Mit 21 Jahren begann sie, ihren Körper für eine einzige Umarmung an sexhungrige Männer zu verkaufen.
„Mädchen wie ich verfallen der Stille”, sagt Lilly Lindner. Sie sprechen nicht - sie hungern. „Und warum? Weil wir das können”, so die 28-jährige Frau. „Das ist die dümmste Antwort, die es gibt, aber sie stimmt. Wir können nicht lieben, können nicht geliebt werden, aber hungern - das können wir.”
Wortgewandt und mit einer unerwarteten Kraft knallt die zierliche Frau den Schülerinnen und Schülern ihr Leben vor die Füße. „Erzähle deine Geschichte mit jedem Wort, das du hast”, fordert sie alle, die in einer ähnlichen Situation sind auf, es ihr gleichzutun. „Wenn du danach keine Freunde mehr hast, hattest du vorher auch keine. Versteck dich nicht hinter deinem Spielgelbild.”
Am Ende der zweistündigen Veranstaltung lässt Lilly Lindner mehr als 100 Schüler und einige Lehrer zurück, die von der Persönlichkeit der gebürtigen Berlinerin ebenso beeindruckt sind wie von ihrer aktionsreichen Performance. Denn die 28-Jährige hat nicht nur aus ihrem Leben erzählt, sie hat unter anderem auch die mit Blut befleckten Blätter ihrer Lebensgeschichte ins Publikum geworfen. Geschickt und ganz bewusst hat sie die Jugendlichen in der Aula ganz nah an sich heran geholt. Nah genug, hoffentlich! (Anke Schneider)
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