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„Die Krankheit war meine zweite Chance”

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Die ersten Weihnachtsplätzchen für dieses Jahr hat sie gemeinsam mit einer Arbeitskollegin gebacken. Verschiedene Sorten mit Nüssen liegen in dem kleinen Schälchen auf dem Wohnzimmertisch. Dazu bietet Doris Hoffmann ihrem Besuch eine Tasse Kaffee an. „Sie ist eine sehr gute Gastgeberin”, sagt Kathrin Beckmann von den Johannitern über die Frau, die sie seit sieben Jahren begleitet. Doris Hoffmann empfängt nicht nur gerne Menschen bei sich zu Hause, sie selbst ist auch gerne unterwegs. Das war nicht immer so. Vor zwölf Jahren erkrankte die 52-Jährige an einer schweren Psychose. Der Weg zurück in einen geregelten Alltag war lang. Heute sagt die gebürtige Versmolderin: „Ich bin stolz auf das, was ich geschafft habe.” Sie sei sehr nervös, gesteht Doris Hoffmann eingangs des Gespräches. Dennoch ist sie bereit, dem Haller Kreisblatt ihre Krankengeschichte zu erzählen. Diesen Mut und diese Offenheit bewundert ihre Betreuerin Kathrin Beckmann. Psychische Erkrankungen seien häufig ein Tabuthema in der Gesellschaft, die Diagnose oft mit Stigmata behaftet. Seit 2007 ist Kathrin Beckmann als Betreuungsfachkraft im Bereich des Ambulanten Betreuten Wohnens bei der Johanniter-Unfallhilfe tätig. »Jeder kann jederzeit selbst betroffen sein« Doris Hoffmann ist eine ihrer Klienten. „Sie hat nie aufgegeben und sich vertrauensvoll in unsere Hände begeben”, sagt Kathrin Beckmann, Heilpraktikerin für Psychotherapie. Ende des Monats nun läuft die ambulante Hilfe aus. Ein großer Moment für Betreuerin und Klientin. Die Anfänge ihrer Erkrankung kann Doris Hoffmann nur schwer in Worte fassen. Die Probleme begannen nach der Scheidung. „Mein Mann hat mir die Kinder weggenommen und mir Alkoholprobleme vorgeworfen. Damit fing alles schleichend an”, schildert die Versmolderin. Sie sei antriebslos geworden, nicht mehr zur Arbeit gegangen, habe kaum mehr die Wohnung verlassen. „Es war kalt in mir und ich habe Stimmen gehört, von denen ich damals nicht wusste, dass sie das Unterbewusstsein sind”, beschreibt sie. Kathrin Beckmann weiß, dass es vielen Menschen mit psychischen Erkrankungen wie Depression, Burnout, Persönlichkeitsstörungen oder wahnhaften Erkrankungen ähnlich geht. „Man hat das vage Gefühl, dass irgendetwas nicht stimmt”, schildert sie. Dazu käme die Unwissenheit über die Entstehung dieser Erkrankungen. Dabei könnte „jeder jederzeit selbst betroffen sein”, genauso wie jeder an Diabetes oder einem Magengeschwür erkranken könne. Soziale Faktoren spielten dabei genauso eine Rolle wie auslösende Ereignisse, beispielsweise ein schwerer Schicksalsschlag, oder die familiäre Disposition, sprich die Anfälligkeit für eine Erkrankung aufgrund der Veranlagung. Auch Doris Hoffmann merkt irgendwann, dass mit ihr etwas nicht stimmt - und sucht sich Hilfe bei einem Psychiater. Dieser überweist sie mit der Diagnose wahnhafte Erkrankung in eine Klinik nach Telgte. Dem mehrwöchigen stationären Aufenthalt folgt die teilstationäre Behandlung in einer Tagesklinik. Ihr Versmolder Psychiater ist es schließlich, der Doris Hoffmann dazu rät, Kontakt mit den Johannitern aufzunehmen. „Am Anfang haben wir viel geredet”, erinnert sich Doris Hoffmann an die ersten Treffen mit ihrer Betreuungsfachkraft, „und sie hat mir immer wieder in den Hintern getreten.” Doris Hoffmann sucht sich mit Unterstützung der Johanniter zunächst eine eigene Wohnung, später eine Arbeitsstelle. Sie nimmt Freizeitangebote der Johanniter wahr, um am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen, knüpft dort wieder soziale Kontakte. „Bei unserer Arbeit geht es um Alltagshilfen und um Inklusion, alles mit großer Mitwirkungsbereitschaft der Klienten”, sagt Kathrin Beckmann. Durch einen Arbeitsplatz würden die Betroffenen einer sinnvollen Tätigkeit nachgehen, Tagesstrukturen lernen. Freizeitaktivitäten holten sie aus der Isolation und brächten ein Stück Normalität in den Alltag. Doris Hoffmann hat diesen Schritt geschafft, obwohl es ein langer Weg mit Rückschlägen war. „Ich habe jede Hilfe angenommen, die ich bekommen konnte”, sagt sie. Vor einiger Zeit erst ist die 52-Jährige in eine neue Wohnung gezogen, besitzt mittlerweile ein eigenes Auto, hat sich einen Freundeskreis aufgebaut, nimmt am Johanniter-Freizeittreff teil, lädt Besuch ein - und hat die Leidenschaft fürs Reisen für sich entdeckt. „Früher habe ich mich nie getraut, alleine wegzufahren, heute gönne ich mir die Auszeit und fahre in den Urlaub”, sagt Doris Hoffmann freudestrahlend. Geheilt werden kann die chronische Erkrankung nicht, aber dank der medikamentösen Einstellung ist die 52-Jährige in der Lage, ihr Leben eigenständig zu meistern. „Die Krankheit ist das Beste, was mir passieren konnte”, sagt Doris Hoffmann rückblickend, und fügt hinzu: „Sie war meine zweite Chance.” Die Chance, Unterdrückung, Demütigung und Isolation hinter sich zu lassen. (Tasja Klusmeyer)

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