Quantcast
Channel: Haller Kreisblatt
Viewing all articles
Browse latest Browse all 3262

Dezenter Glanz

$
0
0
Fast unbemerkt schleicht sich der Stargast zu seinem Lesepult in der Versmolder Stadtbibliothek. In der letzten Zuschauerreihe steht Mirko Bonné auf, als er angekündigt wird, und geht mit seinem Buch in der Hand langsam nach vorn. Ein kleiner, sehr gepflegter Mann mit dunklem Anzug, hoher Stirn und ernstem Blick. So seriös sieht also ein Aspirant auf den Deutschen Buchpreis aus. Der 48-Jährige indes beweist schon mit seinem ersten Satz, dass er ein Intellektueller mit Humor ist.  „Ich muss mich entschuldigen, dass ich nicht Daniel Kehlmann bin”, sagt Bonné, grinst leicht und schiebt dann hinterher: „Aber das kann ja noch werden.” Kehlmann ist der wohl bekannteste Name unter den am Dienstagabend verbliebenen 20 Aspiranten auf den Deutschen Buchpreis - und das Versmolder Publikum weiß bis um kurz nach 20 Uhr lediglich, dass einer dieser Kandidaten zu einer »Blind-Date-Lesung« in die Stadtbibliothek gekommen ist. „Wir spielen heute ein kleines Vabanqué-Spiel mit Ihnen”, hatte Buchhändlerin Gesine Klack, die gemeinsam mit Stadtbibliothekarin Christa Brüning eingeladen hatte, zuvor angekündigt. Wie aufgeregt die Gastgeberin angesichts des Experimentes im Rahmen des Versmolder Leseherbstes ist, beweist ein kleiner Patzer, der für Erheiterung bei den Gästen sorgt: „Wir haben heute einen Autor hier”, setzt Klack an - und hat damit das Geschlecht des Stargastes fast schon preisgegeben, zu dem sie doch eigentlich noch einige Hinweise geben will. (Marc Uthmann) Ausverkauftes Haus: »Blind Date« ein voller Erfolg Zu diesem Zeitpunkt hat sich das Blind Date bereits als Erfolg entpuppt. 90 Zuschauer sorgen für eine ausverkaufte Stadtbibliothek und liefern den angemessenen Rahmen für einen Abend, den Gesine Klack als besondere Ehre empfindet: Sie war vom Börsenverein des Deutschen Buchhandels aufgefordert worden, sich um eine der Überraschungslesungen zu bewerben, die im Vorfeld der Preisverleihung am 7. Oktober stattfinden. Klack erhielt den Zuschlag und hat am Dienstagabend einen Vollprofi zu Gast, der die Zuhörer eine Stunde lang in seinen Bann zieht. Mirko Bonné liest ruhig, und doch akzentuiert, macht die Melancholie, die Dunkelheit und die Ängste greifbar, die das erste Kapitel seines fünften Romans »Nie mehr Nacht« durchziehen. Bonné erzählt die Geschichte des Zeichners Markus Lee, der von einem Hamburger Kunstmagazin den Auftrag erhält, in die Normandie zu reisen, um dort Brücken zu zeichnen, die bei der Landung der Alliierten im Sommer 1944 eine entscheidende Rolle spielten. Lee nimmt seinen pubertierenden Neffen Jesse mit auf diese Tour, dessen Mutter Ira sich vor Jahren das Leben nahm. Dieser Verlust liegt wie ein Schatten auf der Geschichte einer Annäherung, die Bonné so behutsam entwickelt, wie er liest. Es geht um die Annäherung zwischen zwei Trauernden, es geht aber auch um die Geschichte des Zweiten Weltkrieges. „Das ist mein wohl persönlichstes Buch”, wird Mirko Bonné im Anschluss an die Lesung sagen. Er hat es auch für seine mittlerweile verstorbene Großmutter geschrieben. Um ein Stück ihrer Lebensgeschichte zu bewahren, Vergangenheit wieder lebendig zu machen. „Es geht mir darum, Grenzen zu erkunden. Wie ästhetisch lassen sich Gräuel darstellen? Diese Frage hat sich mir gestellt”, sagt Bonné während eines sehr lebhaften Austauschs mit dem Publikum im Anschluss der Lesung. Bedächtige Worte, dichte Erzählung Zuvor hat der mehrfach ausgezeichnete Autor, der in Hamburg lebt, mit der Bedächtigkeit seiner Worte, mit der Dichte seiner Erzählung, gut eine Stunde für fast atemlose Stille in der Bibliothek gesorgt. Was ihn anschließend dazu nötigt, entschuldigend zu betonen, „dass es auch sehr viele heitere Passagen in diesem Buch gibt”. An diesem Abend glänzt Bonné jedoch mit einer fast melancholischen Sprachgewalt. Seine Figuren stellt er traurig, desillusioniert, fast stumm dar - und tut das mit einer so detailreichen, in die Vielfalt des Lebens verliebten Sprache, dass faszinierende Kontraste entstehen. Wortreich und doch sprachlos, melancholisch und zugleich neugierig auf die Welt - unter dem Strich steht eine fesselnde Lesung, stets von der Metaphorik der Nacht und der Dunkelheit flankiert. Fast unbemerkt war Bonné ans Pult getreten; als er geht, hinterlässt er Eindruck.

Viewing all articles
Browse latest Browse all 3262