Halle (maut).
Die Kälte und der Schneeregen legen sich wie ein trauriger Mantel auf die Szenerie, als wollten sie die Erinnerung an den unmenschlichen Schrecken untermauern. Gut 200 Schüler der weiterführenden Schulen vor Ort sind gestern Vormittag auf dem Haller Kirchplatz zusammengekommen, um der heimischen Opfer der Verfolgung durch den Nationalsozialismus zu gedenken. Am 70. Jahrestag der Befreiung des Vernichtungslagers Auschwitz-Birkenau. Dort kamen mehr als eine Million Menschen um - doch Gräuel und Grausamkeiten spielten sich auch in Halle und Umgebung ab.Es geht an diesem Morgen darum, den Opfern etwas zurückzugeben. Und zwar ihreIdentitäten. "Wir gedenken der Opfer durch die Verlesung ihrer Namen und bekennen uns damit auch zu unserer historischen Verantwortung", sagte Britta Jünemann, Geschichtslehrerin am Haller Kreisgymnasium, in ihrer Ansprache. Jünemann hat die Gedenkveranstaltung gemeinsam mit Kollegin Eva-Maria Egert von der Haller Gesamtschule, Pfarrer Jens Weber, Katja Kosubek vom Haller Museum »ZeitRäume« und den Schülern organisiert.
Die Jugendlichen zünden Kerzen an. Jede von ihnen ist mit dem Namen eines Opfers beschriftet - auch das eine Geste, um den Verfolgten, Ausgegrenzten, Ermordeten zumindest ein Stück ihres Selbst zurückzugeben.
Lilith Beaujean, Schülersprecherin des Kreisgymnasiums, erzählt eine Geschichte des Terrors, wie sie in jenen Tagen der Diktatur auch in Halle alltäglich war und stellvertretend für ein verbrecherisches Regime stand: Es ging um das Leiden der jüdischen Familie Isenberg. "Die Fenster und Türen ihres Hauses wurden mit Teer beschmiert", liest Beaujean vor. Schon 1935 fordern Plakate dazu auf, nicht mehr in der Schlachterei von Moritz Isenberg zu kaufen. 1936 muss er sein Geschäft aufgeben, 1942 wird die Familie über Bielefeld ins Warschauer Ghetto deportiert. Weder Moritz noch Thekla und Klara Isenberg überleben.
Es ist eine Geschichte von hunderten in Halle, Steinhagen und Borgholzhausen: Juden, Menschen anderer Volksgruppen, Homosexuelle, Andersdenkende oder Regimekritiker wurden verschleppt und ermordet. Jeden dieser Namen tragen die Schüler vor - und das Grauen gewinnt vor allem dann Gestalt, wenn sie vom "Waldlager Künsebeck" sprechen. Dort sind besonders viele Kinder von Zwangsarbeitern umgekommen, sie starben an Seuchen, Hunger oder Entkräftung.
Hanna Mareike Bertram schlägt nach der Nennung jedes dieser Namen einen Ton mit dem Becken - sein Nachhall dringt in die Stille ein. Er verleiht dem Trauer Nachdruck und macht aus Opfern, denen die Nationalsozialisten nur Nummern gaben, Menschen mit Zielen, Wünschen, Träumen und Ängsten. Pfarrer Jens Weber nimmt diesen Faden auf: "Geschichte droht schnell zu verblassen. Deshalb geht es darum, aus der Erinnerung immer wieder lebendige Zukunft werden zu lassen." Weber mahnt, Auschwitz nicht als etwas zu begreifen, das "weit weg" war. "Auch hier sind Menschen verfolgt und verschleppt worden." Für die Taten von damals trage die nachgeborene Generation keine Verantwortung - aber sehr wohl dafür, dass sich die Geschichte nicht wiederhole. "Den Opfern sind wir es schuldig, uns zu erinnern", sagt der Pfarrer.
Im Anschluss setzt sich ein schweigender Marsch in Richtung des Mahnmals auf dem Von-Kluck-Platz in Bewegung. Dort stellen die Schüler ihre Kerzen ab und Elisa Rademacher, Zehntklässlerin der Haller Realschule, spielt auf der Geige ein Stück aus dem Spielfilm »Schindlers Liste« - der Kälte und dem Regen zum Trotz. Die Schüler hören ihr einfach nur zu - und haben schon damit ein Zeichen gegen das Vergessen gesetzt.