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"Gefühlte Aussichtslosigkeit"

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Steinhagen.
Selbstmorde kommen im Haller Kreisblatt nicht vor. Aus Sorge vor Nachahmern und aus Rücksicht auf Familie und Freunde ist üblicherweise von einem »Unglücksfall« die Rede. Nichtsdestotrotz bringen sich immer wieder Menschen selbst um: Allein 2013 töteten sich im Kreis Gütersloh 42 Männer und Frauen. (2014 liegt noch nicht vor.) Der Steinhagener Pfarrer Ulrich Potz hat als Polizei- und früherer Notfallseelsorger Erfahrung mit Suiziden. Gemeinsam mit Gemeindepädagogin Andrea Melzer und Jugendreferentin Silja Hawerkamp-Bußmann sprach er mit Redakteur Jonas Damme darüber, was Menschen zu so einem Schritt treiben kann.

Beschäftigt man sich mit dem Thema, stößt man auf etliche Theorien zum Suizid: Viele Selbstmorde sollen rund um Weihnachten geschehen, Andere erkennen eine Häufung erst im Frühling. Wieder Andere machen die Wirtschaftskrise verantwortlich. Gibt es klare Faktoren, die sich immer wieder finden?

Pfarrer Ulrich Potz: Krankheiten, Leistungsdruck - da gibt es schon Einzelaspekte. Im Alter spielt besonders Vereinsamung eine Rolle. Und natürlich sind Festtage und Familienfeiern oft eine besondere Belastung.

Gerade im Alter: Kann Suizid eine zulässige Lösung sein?

Potz: Wenn jemand über lange Zeit Schmerzen hat, kann ich das schon verstehen. Ich habe sehr gepeinigte Menschen erlebt.

ANDREA MELZER: Für Christen gibt es eigentlich eine klare Linie: Gott gibt Leben, Gott nimmt Leben. Aber auch das kann man hinterfragen.

Potz: Da greift das fünfte Gebot: Du sollst nicht töten. Das gilt auch für das eigene Leben.

Können sie Sterbehilfe also im Einzelfall akzeptieren oder nicht?

Potz: Das ist ein Dilemma, das sich nicht lösen lässt, da spielen immer die Umstände eine Rolle. Grundsätzlich ist das Christentum lebensbejahend, aber natürlich bleibt das eine persönliche Entscheidung, gerade wenn es um große Leiden geht. Es muss die Möglichkeit geben, würdevoll zu sterben und das kann auch heißen: selbstbestimmt. Es ist zu begrüßen, dass hier gerade eine offene Diskussion geführt wird.

Oft geht es aber nicht um körperliche, sondern um seelische Leiden, oder?

Potz: Die Mehrheit aller Suizidanten steckt in einer Situation von gefühlter absoluter Aussichtslosigkeit. Da können auch Depressionen ein Rolle spielen. Und wenn dann das soziale Netzwerk oder Stabilisierungskräfte fehlen, die den Gefährdeten im Leben halten, kann es dazu kommen, das jemand nur noch diese finale Rettungsleine sieht.

Man sagt unserer Gesellschaft nach, dass sie immer kälter wird und Kontakte fehlen. Gibt es da Zusammenhänge?

Potz: Viele jüngere Menschen heutzutage leben in ganz anderen Kommunikationszusammenhängen. Man tauscht sich viel mehr über Computer, Handy und Soziale Netzwerke, wie Facebook, aus. Da fehlt die konkrete Begegnung von Angesicht zu Angesicht. Das gibt weniger Halt: An Facebook kann man sich nicht anlehnen. Da fehlt Zuneigung, die man körperlich fühlen kann. In den Arm nehmen hat eine ganz andere Stabilisierungskraft.

SILJA HAWERKAMP-BUSSMANN: Wir merken auch immer wieder, dass virtuelle Netzwerke sehr stark in der Lage sind, jemanden zurückzusetzen oder zu mobben.

Und das gibt es im direkten Kontakt nicht?

Potz: Doch, aber im Internet läuft so etwas in Leere.

HAWERKAMP-BUSSMANN: Mein Eindruck ist einfach, dass Facebook umgekehrt nicht in der Lage ist, etwas zurückzugeben und zu halten. »Gefällt mir«-Buttons geben nicht so viel Anerkennung. Das merken wir auch in unserem Berufsalltag. Aber ich will das hier nicht auf Medien reduzieren, das Thema Suizid ist so vielseitig wie der Mensch selbst.

Dahinter verbirgt sich doch das gleiche Problem wie bei alten Menschen: die mangelnde zwischenmenschliche Wärme, oder?

Melzer: Und das zeigt sich auch an weiteren Stellen: Die Anzahl der Singlehaushalte steigt, die Scheidungsrate steigt. Es ist einfach auch viel brüchiges soziales Netzwerk da. Das merken wir in unserer Arbeit sehr deutlich. Deswegen machen wir auch Präventionsarbeit.

Sie sehen also im bröckelnden sozialen Zusammenhalt ein heutiges Defizit. Gibt es weitere, die man klar benennen kann?

Potz: Unsere Gesellschaft ist zunehmend gnadenlos in Hinsicht auf das Leistungsprinzip. Es wird immer mehr gefordert. Und wenn man in der subjektiven Wahrnehmung unter diese Leistungsgrenze rutscht, fängt das Selbstbewusstsein an zu erodieren. Wenn man in diesen Teufelskreis hineinkommt und keine Vernetzung hat, die einen wieder nach oben holt oder sich aus Scham nicht traut, darüber zu sprechen, dann geht es für manche soweit runter, dass es im Suizid enden kann.

Sie sprechen von Scham. Spielt die also auch eine Rolle?

Potz: Viele Lebensumstände sind so schambesetzt, weil man Angst hat, nicht mehr als belastbares und leistungsfähiges Individuum zu gelten. Deshalb werden dann bestehende Hilfemöglichkeiten gar nicht mehr in Anspruch genommen und ausblendet. Das habe ich schon häufig bei Menschen erlebt, die dann wirklich den Suizid als Ausweg gewählt haben, ohne, dass er ein Ausweg hätte sein müssen.

Kann ich erkennen, dass jemand so etwas mit sich herumträgt?

Potz: Eine nachhaltige Wesensveränderung ist ein Indikator.

HAWERKAMP-BUSSMANN: Auch auffälliges Konsumverhalten, Trinken oder Sucht. Wenn so etwas extrem wird, kann es brenzlig werden. Genauso wie ein starker Rückzug, der ständige Wunsch allein zu sein, anstatt über Probleme zu sprechen.

Potz: Ich habe auf der anderen Seite schon Menschen erlebt, die mir in der Seelsorge von schrecklichen Traumata erzählten, über die sie viele Jahre nicht gesprochen haben. Die menschliche Seele ist in hohem Maße auch zur Verdrängung fähig, um das Überleben zu ermöglichen.


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