Von Silke Derkum
Versmold/
Bielefeld.
Jens S. scheint sich auf einen längeren Prozesstag eingerichtet zu haben. Als er durch das enge Spalier der weit über 100 Zuschauer geht, die vor dem großen Saal im Bielefelder Landgericht auf Einlass warten, trägt er einen Lunchbeutel in den von Handschellen zusammengehaltenen Händen. Hatte er zum Prozessauftakt vor drei Wochen noch ein Schild mit der Aufschrift »Schuldfrei« bei sich, nimmt der 29-Jährige zum zweiten Verhandlungstag einen Apfel und eine Butterbrotdose mit. Seine Aussage wird jedoch die gleiche bleiben. Mit dem grausamen Mord an einem Gütersloher Geschwisterpaar an Heiligabend will der gebürtige Versmolder nichts zu tun haben.Es dauert einige Zeit, bis sich die Türen zum Gerichtssaal schließen, denn wesentlich mehr Zuschauer als auf die rund 80 Sitzplätze passen, wollen das Geschehen verfolgen. Darunter auch Bekannte des Täters und der Opfer aus Versmold und Gütersloh. Auch die Tochter der erstochenen Ärztin Helgard G. ist darunter - und muss um ein Haar zusammen mit den etwa 30 Zuschauern, die keinen Platz gefunden haben, den Saal verlassen.
Wie angekündigt, lässt Jens S. sich zu den Vorwürfen ein. Jedoch nicht persönlich. Sein Verteidiger Sascha Haring verliest eine Erklärung. Darin erläutert S. ausführlich, wie er die Tochter der Getöteten und deren Lebensgefährten Joseph S. 2006 kennengelernt hat. Er war Patient in der Naturheilpraxis der Tochter, in der er dann regelmäßig mit Joseph S. ins Gespräch kam. Über die Jahre habe sich ein derart freundschaftliches Verhältnis entwickelt, dass die drei im August 2013 sogar gemeinsam Campingurlaub machten.
Bei einem seiner zahlreichen Spaziergänge mit Joseph S. habe Jens S. dann 2012 auch erstmals Helgard G. getroffen. Bald begleitete der gelernte Gas- und Wasserinstallateur seinen Bekannten zu Reparaturarbeiten im Haus von Helgard G. und ihrem Bruder Hartmut S. in der Badstraße. Dabei habe sich ein freundschaftliches Verhältnis entwickelt. Man duzte sich und S. war sogar im Dezember 2012 zum Gansessen im Hause G. eingeladen. Gemeinsames Gesprächsthema der beiden sei dabei oft die Geopathologie gewesen, die S. als Betätigungsfeld für sich entdeckt habe.
Sie war auch der Anlass, warum sich der gebürtige Versmolder am 24. Dezember auf den Weg zu Helgard G. gemacht habe. Er hatte am Vormittag bei seinem Getränkeeinkauf spontan eine Flasche Biorotwein für sie erstanden. Der Wein habe eine Art Werbegeschenk sein sollen. "Ich habe gehofft, dass sie mich bei ihren Patienten weiterempfiehlt", liest der Anwalt aus S. Bericht vor.
Die Ärztin habe Jens S. herzlich begrüßt, ihn sogar umarmt, heißt es weiter. Ungefähr eine Viertelstunde sei er bei ihr geblieben. Als er das Haus verließ, habe sie noch gelebt. Den Rest des Weihnachtsabends habe er am Computer gesessen und sich eine Harry-Potter-DVD angeschaut. Am nächsten Morgen habe er sich mit Josef S. wie seit Jahren zur Frühmesse in der St.-Anna-Kirche in seinem Wohnort Verl getroffen und den Rest des Tages mit Eltern und Geschwistern bei den Großmüttern in Versmold verbracht. "Ich habe mit dem Tod von Helgard und Hartmut nichts zu tun", endete das Statement, "ich hatte keinen Grund, sie zu töten. Im Gegenteil, ich hatte mir durch sie neue Kunden erhofft."
Nach Weihnachten habe er aus der Zeitung erfahren, dass die Polizei den Käufer der Weinflasche suchte. "Da ich zuvor eine Speichelprobe abgegeben habe, dachte ich, die Polizei wird sich schon bei mir melden", heißt es. "Ich wollte nichts verheimlichen; ich hatte meiner Familie schon vor der Verhaftung von meinem Besuch in der Badstraße erzählt."
"Jetzt ergibt sich natürlich eine Vielzahl von Fragen, aber zur Zeit sollen keine beantwortet werden", sagt Richterin Jutta Albert, denn der Angeklagte lehnt jede weitere Äußerung in dieser Sache ab.
Bei den Fragen zur Person allerdings ergreift Jens S. wie angekündigt das Wort. Er verliest einen selbst geschriebenen Lebenslauf und antwortet dann ruhig, freundlich, ausführlich, wortgewandt und klug auf die Fragen der Richterin. Erkundigt sich sogar öfter, ob er etwas ausführlicher erläutern soll. Und während Richterin Albert die meisten ihrer Fragen mit dem Gesicht vom Angeklagten abgewandt stellt, blickt Jens S. sie durchgehend an.
Sein starker Bezug zur Naturheilkunde und zur Spiritualität ist in vielen Antworten erkennbar. Wieso er denn vor einiger Zeit nach Verl gezogen sei, fragt Staatsanwalt Christoph Mackel. Sein Tensor, eine Art Wünschelrute, habe das für ihn entschieden, antwortet S. Ob er sich manchmal manipuliert oder überwacht gefühlt oder Wahnvorstellungen gehabt habe, will der medizinische Gutachter wissen. "Nein", sagt S. und räumt dann ein: "Also, überwacht schon, aber das war keine Wahnvorstellung, das war kurz vor meiner Verhaftung."
Der Prozess wird am Mittwoch, 27. August, um 11 Uhr fortgesetzt.