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Gespräche, die guttun

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Von tasja klusmeyer

Versmold.
Fritz Temme hat sich extra in Schale geworfen: mit blauem Hemd, braunem Jackett und Krawatte. Lächelnd empfängt er seinen Besuch in der gemütlichen Sitzecke am Wohnzimmerfenster. Ihm ist anzumerken, wie sehr er sich über seine Gäste freut. "Hier in der Wohnung bin ich doch schon oft allein", sagt er. Fritz Temme - mit 98 Jahren ältester Mann der Fleischstadt - sitzt altersbedingt im Rollstuhl, ist körperlich beeinträchtigt, kann seine eigenen vier Wände kaum mehr verlassen. Doch statt sich darüber zu beklagen, versucht der Rentner, der im Geist noch fit geblieben ist, das Schöne zu sehen, das Beste aus seiner Situation zu machen. Beispielsweise durch den Anruf beim ehrenamtlichen Besuchsdienst.

Das ist inzwischen fast drei Jahre her. In der Zeitung hatte Fritz Temme damals vom neuen Angebot gelesen - und den Telefonhörer in die Hand genommen. "Ich habe nach Unterhaltung und Abwechslung gesucht", erzählt er. Zur gleichen Zeit wiederum hörte Thomas Wiese von dem Besuchsdienst, für den Ehrenamtliche gesucht wurden. "Menschen dabei zu unterstützen, möglichst lange in ihrem eigenen Zuhause bleiben zu können, finde ich einen tollen Gedanken", erklärt er seine Motivation. Thomas Wiese engagierte sich bereits zuvor als Besucher im Katharina-von-Bora-Haus. Die neue Idee, Senioren, die sich einsam fühlen, zu Hause zu treffen, sagte dem Verwaltungsmitarbeiter zu.

Aus einem ersten Kennenlernen ist inzwischen eine feste Besuchspatenschaft geworden. Etwa alle drei Wochen klingelt Thomas Wiese an dem Haus an der Friedrich-Menzefricke-Straße. Fritz Temme freut sich auf diese Besuche, bedeuten sie doch Abwechslung im Alltag. Die beiden Männer plaudern über Tagesaktuelles, manchmal über Fußball, über Neues aus der Stadt und besonders viel über Fritz Temmes Leben. "Uns wird nie langweilig. Die Treffen sind gut für beide Seiten", sagt Thomas Wiese. Und Fritz Temme bestätigt: "Ich habe ja auch viel erlebt."

Aus seinem Berufsleben als Kraftfahrer, in dem er "Millionen von Kilometern" gefahren sei, kann Fritz Temme viel berichten. Noch heute weiß er genau, an welchem Wochentag er welche Tour fahren musste. Das, was der Versmolder aus den Kriegsjahren erzählen kann, von seiner Zeit in russischer Gefangenschaft und nach Kriegsende von seinem langen Fußmarsch von Polen zurück in die Heimat, bewegt Thomas Wiese besonders. "Das ist Geschichte live. Er hat die 20er-Jahre als Kind erlebt. Herr Temme ist eine der letzten Personen, die einem davon persönlich berichten können", sagt Wiese, der mit 56 Jahren mehr als 40 Jahre jünger ist als sein Gegenüber.

Fritz Temme weiß auch einiges über ein Stück Stadtentwicklung zu erzählen. Sein Elternhaus steht an der Friedrich-Menzefricke-Straße, seinen Eltern gehörte einst das Land, auf dem sich später das Logistikunternehmen Nagel ansiedelte. Die Entwicklung des Standortes hat Fritz Temme aus dem Wohnzimmerfenster verfolgen können.

Auch heute noch mag er seinen Platz am Fenster. Ins Altenheim möchte Fritz Temme nicht. Dank seiner Enkeltochter, die in der Wohnung über ihm lebt, und der ambulanten Betreuung durch die Diakonie kann er mit 98 Jahren weiterhin in seinem Haus bleiben. Fernsehen, das intensive Studieren der Tageszeitung, Telefongespräche und Besuche von Familie, Nachbarn und eben Thomas Wiese bringen Abwechslung - und lassen ihn am Leben draußen teilhaben. Zumindest etwas.

Beschweren würde sich der Versmolder nicht. Er freut sich, das stolze Alter erreicht zu haben, ist zufrieden mit dem, was er gesehen und erreicht hat. Gerne hätte er noch mehr gemeinsame Zeit mit seiner Frau verbracht, die schon im Alter von 74 Jahren gestorben ist. Seine spätere Lebensgefährtin, seine Geschwister, viele Bekannte und Nachbarn hat er überlebt.

Gerne würde Fritz Temme auch noch mehr Zeit mit Gartenarbeit verbringen können, aber das ist im Rollstuhl nicht möglich. Mit dem Autofahren hat er mit 94 Jahren, als er merkte, dass es ihn überforderte, aufgehört - und damit an Mobilität verloren. Was Fritz Temme aber wirklich bedauert, ist die Tatsache, dass er kaum mehr mit jemandem auf Platt plaudern kann. "Schade, wirklich schade. Das kann keiner mehr sprechen", sagt er. Auch Thomas Wiese nicht.


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