Von Marc Uthmann
Versmold.
Als Zuschauer bekommt man an diesem Abend irgendwann einen flackernden Blick. Denn schließlich könnte man ja irgendetwas verpassen, das sich gerade in einer Ecke des Marktplatzes abspielt. Keine Zeit zum Luftholen, keine Möglichkeit, sich der Rasanz, dem Witz und der Kreativität dieser besonderen Darbietung zu entziehen. 150 Schauspieler und Musiker machen die Stadt rund um den Schweinebrunnen zu ihrer Bühne: So etwas wie DoxCity - pantomimisches Maskentheater über den Alltag einer Stadt - hat Versmold noch nicht gesehen.Der Marktplatz wird seit Montag dominiert von einer mächtigen Tribüne mit 360 Sitzplätzen. Und die sind voll besetzt, als am Dienstagabend um kurz nach 20 Uhr symbolisch die Stunde null zu einem neuen Tag in Versmold schlägt.
Eigentlich ist alles ganz einfach: Schüler aus dem musischen Zweig des CJD und zahlreiche Bürger, die sich für die Idee begeistern konnten, stellen pantomimisch 24 Stunden im Leben einer Stadt dar. Sie werden dabei musikalisch von der Orchesterschule begleitet - ach ja: Und sie tragen selbst gestaltete, überdimensionale Masken.
Riesige Münder, gewaltige Falten, überdimensionale und noch dazu gebogene Nasen betonen Charakterzüge, erzählen Geschichten, machen aus Schauspielern Kunstfiguren. Und bringen das Publikum zum Lachen. Wenn etwa der Opa mit dem Trecker vorfährt, um sich im Café ein Baguette zu kaufen. Oder wenn der Straßenkehrer vom Bauhof einen tiefen Blick auf die kurzberockte Passantin riskiert, dann erhebt sich das Stück allein aufgrund seiner Anmutung über den bloßen Alltag.
Schnell sind die Zuschauer in den Bann gezogen, weil die kleinen - und manchmal auch die großen - Geschichten des Lebens so liebevoll, so detailreich und mit einem hingebungsvollen Bekenntnis zum Humor erzählt werden.
Wichtigstes Stilmittel dieses Abends: Erzählfäden, die immer wieder aufgenommen werden. Da sind zum Beispiel die Jogger, die sich am Morgen hochmotiviert zusammenfinden, von ihrer Vorturnerin zum Dehnen und Lockern angetrieben. Als sie lostraben, ahnt das Publikum nicht, welcher Marathon sich hier entwickelt. Immer wieder laufen die Sportler über den Marktplatz, irgendwann torkeln sie nur noch - und am Ende macht der vermeintlich Gebrechlichste den fittesten Eindruck.
Ganz anders ergeht es dem glücklosen Paketboten: Nachdem er den ganzen Tag vergeblich versucht hat, seine Lieferung zuzustellen, klappt er schließlich samt Päckchen auf dem Marktplatz zusammen und muss, liebevoll umsorgt von einer Passantin, mit dem Krankenwagen abtransportiert werden.
Und dann war da noch der rüstige Rentner im Rolli, der es den ganzen Tag geschafft hat, der resoluten Schwester aus dem Altenheim zu entkommen. Nur um am Ende doch von ihr kassiert zu werden. Das finale Duell wird musikalisch unterlegt mit der legendären Melodie aus »Spiel mir das Lied vom Tod«.
Kleine Liebesgeschichten werden ebenso erzählt wie Tragödien um eine schlimme Diagnose vom Arzt oder heitere Episoden: Als der ängstliche Postbote vor einem Hündchen auf den Schweinebrunnen flüchtet und per Leiter von der Feuerwehr gerettet werden muss, freut sich das Publikum.
Gestern wurde das Stück erneut aufgeführt - und eigentlich hätte jeder Besucher der Premiere noch einmal hingehen müssen. Denn es ist unmöglich, all die schönen Details des Stücks unter der Leitung des Konstanzer Regisseurs Walter Koch im ersten Anlauf zu bemerken.
Die Schlussphase eines besonderen Frühlingsabends in der Versmolder Innenstadt treibt hingegen das Groteske auf die Spitze und verzückt die Zuschauer: »Wetten, dass ...?« mit Thomas Gottschalk und Bundeskanzlerin Angela Merkel in Versmold, dazu die Wiederauferstehung von Michael Jackson samt Moonwalk.
Erst als alle Akteure sich auf dem Marktplatz versammeln, die Masken lüften und sich verneigen, ist wieder Zeit zum Atemholen.