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Freigeister schaffen ihre Insel der Musik

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Wer die Tür des Fachwerkkottens auf der Grenze zwischen
Versmold und Harsewinkel öffnet, tritt zunächst einmal ins Dunkle. Lediglich ein schwacher Lichtschein weist den Weg ins Herz des Clubhauses, auf verwinkelten Wegen, vorbei an mächtigen Holzbalken - unwillkürlich entsteht das Bedürfnis, sich zu ducken. Fast plötzlich taucht die kleine Bühne im Zentrum auf - ihre Rückwand gepflastert mit Konzertplakaten der Größen des Jazz. Und neben dieser Bühne sitzen zwei Veteranen einer faszinierenden Klubgeschichte - Präsident Joachim, genannt »Jochen« Belz und Programmchef Dierk Oestersötebier (72).
Sie müssen sich nicht an Plakate klammern; sie haben berühmte Könner des Genres live erlebt, in einem Club inmitten provinzieller Idylle. Was bewegte Jazz-Stars wie »Champion« Jack Dupree, Walter Strerath als einen der besten deutschen Jazzpianisten oder erst im Februar dieses Jahres den dänischen Könner Fredrik Lundin dazu, aufs Land zu reisen, um Konzerte zu geben? Finanzielle Anreize können es jedenfalls nicht sein, wie Jochen Belz betont, denn hohe Gagen und Nobelunterkünfte konnte und kann der Club, der seinen Besuchern stets Musik zu erschwinglichen Preisen präsentieren wollte, nicht zahlen. Das sei den Musikern aber auch nicht wichtig, wie Belz mit einem Schmunzeln betont: „Wer mit dem Jazz Millionär werden will, muss als Milliardär angefangen haben.” Um die familiäre Atmosphäre sei es den international renommierten Künstlern stets gegangen, um die Nähe zu einem fachkundigen Publikum - und nicht zuletzt um den unvergleichlichen Sound im Farmhouse, den das Team 2012 durch einen weiteren Clou noch optimierte: Die Bühne selbst wurde zum Klangverstärker umgebaut. Bedingungen, die über Jahrzehnte Musiker und Bands von allen Kontinenten und aus 28 Ländern sowie mehr als 240 000 Besucher anlockten. Geschichte des Vereins beginnt an der Theke Die Geschichte des Clubs begann dabei übrigens nicht an der Vorbruchstraße, sondern an der Theke im zum Bersten gefüllten Saal des Hotels Poppenborg - im Dezember 1962 bei einem Jazzbandball. Die Versmolder Band »Jailhouse Jazzmen« mit Jochen Belz, die sich aus dem Versmolder Posaunenchor gelöst hatte, trifft auf Harsewinkler Jazz-Enthusiasten um Johannes Lübbering, der sich als Vordenker betätigt und die Gründung eines Clubs vorschlägt. Platten hören und über Musik quatschen - das hatte die Runde damals vor, als sie am 29. Juni 1963 die Satzung formulierte. Schnell wird viel mehr daraus. Bis Silvester 1963 bauen sich die Mitglieder in vielen Stunden harter Arbeit einen Kotten in der Harsewinkler Bauernschaft Vechtel zum Vereinsheim um. Bereits 1965 organisieren die Musikliebhaber erste Konzerte - schon damals lautet ihre Mission: den Jazz und seine Ursprünge bewahren. Dierk Oestersötebier bringt die besondere Faszination einer Musik der Freigeister auf den Punkt: „Der Rhythmus und die Improvisation machen den Jazz so besonders. Ein tolles Solo kann eigentlich nie zweimal gespielt werden.” Schon ab 1965 organisieren die Jazz-Liebhaber erste Konzerte - der Startschuss für eine Geschichte mit mehr als 1000 Auftritten im Lauf der Jahrzehnte. Und je bekannter der kleine Club in Ostwestfalen wurde, desto hochkarätiger seine Gäste. Da schraubten Stars der Szene ihre Gagenforderungen mal von 800 auf 150 Mark herunter - weil sie so viel Gutes aus der Provinz gehört hatten. Solche Mund-zu-Mund-Propaganda war für hochklassige Gastspiele auch nötig - denn „von großen Sponsoren haben wir uns nie abhängig gemacht. Wir wollen niemandem verpflichtet sein”, sagt Jochen Belz fast trotzig. Ein Konzept, das auch heute noch funktioniert - wobei der Farmhouse Jazzclub dennoch einige existenzielle Krisen zu überstehen hatte. Die erste schon 1972, als plötzlich der Pachtvertrag für das Clubhaus gekündigt wurde. „Im Vechtel sollte ein Baugebiet entstehen - und wir mussten eine neue Heimat suchen”, erinnert sich Dierk Oestersötebier. Zwar wurde bald ein neuer Kotten unter der heutigen Adresse gefunden - doch auch hier war die Farmhouse-Familie wieder gefragt, um mit harter Arbeit ein musikalisches Zuhause zu schaffen. Zudem kosteten die Baumaterialien 40 000 Euro - ein finanzieller Kraftakt, der nur mit Zuschüssen, Spenden, Bürgschaften und Sammlungen zu stemmen war. Schon im März 1975 wurde der Farmhouse Jazzclub mit einem Konzert der »Blackbirds of Paradise« aus Hamburg eingeweiht. Sorgenfrei sind die Jazzer damit aber noch lange nicht. Die 80er-Jahre sind geprägt von Besucherrückgang und finanziellen Schwierigkeiten - die Zahl der Konzerte wird verringert. Und 1993 wird von einer Erbengemeinschaft plötzlich erneut der Pachtvertrag gekündigt. 200 000 D-Mark soll der Verein für sein Zuhause nun bezahlen - das Aus scheint unausweichlich. Doch erneut rettet ein unvergleichlicher Kraftakt, an dem sich die Städte Harsewinkel und Versmold, Volksbank und Sparkasse, großzügige Gönner, viele Spender und nicht zuletzt zu geringen Gagen auftretende Musiker beteiligen, den Club. Im Mai 1993 wird der Kaufvertrag unterzeichnet. Heute sind die stolzen Jazzer Herren im eigenen Haus - und das bleibt ein beliebter Treffpunkt der Szene. Zu Glanzzeiten kommen bis zu 800 Besucher Zu Glanzzeiten kommen bis zu 800 Besucher, um die Konzerte im Freien auf der Terrasse des Farmhouse-Jazzclubs zu genießen. Solche Zahlen erreicht der Klub aktuell nicht mehr - doch immerhin durfte Klubchef Jochen Belz am 1. Mai 350 Zuhörer zur traditionellen Jamsession begrüßen. Im Klub selbst war die Enge an sich ein Markenzeichen. „Bis zu 100 Zuhörer können dabei sein - dann trinkt man aber leichter aus der Bierflasche des Nebenmannes als aus der eigenen, weil man die Arme nicht mehr hochkriegt”, sagt Jochen Belz. Heute geht es für den Verein darum, Nachwuchs zu gewinnen. „Wir organisieren mittlerweile den School Jam für Nachwuchsmusiker, haben einige junge Mitglieder gewonnen, die uns wesentlich unterstützen”, blickt Dierk Oestersötebier optimistisch nach vorn. Die Nachwuchsarbeit wird ein entscheidender Faktor für die Zukunft des Clubs sein, der heute von 60 zum Teil seit Jahrzehnten eingespannten Mitgliedern geprägt wird. Jochen Belz bringt sein Ziel griffig auf den Punkt: „Es soll hier weitergehen.” Mit so viel Trotz und Kreativität wie in den vergangenen 50 Jahren könnten die Jazzer es schaffen.

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