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Der Geselle aus dem Reich der Mitte

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Von Rolf Uhlemeier Halle. Lu Chen holt tief Luft und pustet in den kleinen roten Schlauch, den er zwischen seine Lippen geklemmt hat. Blitzschnell wird aus der flackernden Lohe des Brenners eine spitze, über 1000 Grad heiße Gasflamme. Mit ruhiger Hand zieht Lu Chen das Lot durch den winzigen Spalt zwischen zwei dünnen Drähten. Mit bloßem Auge ist die Verbindung kaum zu erkennen und dennoch wird sie später dafür sorgen, dass der filigran gearbeitete Verschluss einer Kette verlässlich seinen Dienst versieht. Lu Chen sitzt an seinem Arbeitsplatz in der Goldschmiedewerkstatt von Petra und Wolfgang Otterpohl. Nur ein kurzer Blick genügt und schon hat er genau die Zange ausgewählt, die er benötigt, um die zusammengefügten Drähte mit geschickter Hand ein klein wenig zu richten. Mit kritischem Blick prüft Lu Chen seine Arbeit im hellen Licht der Werkstatt im ersten Stock des kleinen Fachwerkhauses in der Haller Innenstadt und lächelt. Lu Chen hat allen Grund, sich zu freuen. Ende Januar hat er seine praktische Gesellenprüfung in Karlsruhe bestanden - mit der Note eins. Eineinhalb Jahre zuvor hatte er bereits die theoretische Prüfung an der renommierten Schule in Pforzheim abgelegt. "Mit einer tollen drei", sagt Goldschmiedemeister Wolfgang Otterpohl und ergänzt mit Blick auf die große sprachliche Herausforderung für seinen chinesischen Lehrling: "Das ist für ihn wie eine Eins." Aus der Metropole Shanghai kommt Lu Chen. In Pforzheim hat er zwei Jahre die Goldschmiedeschule besucht und die Anschlusslehre mit Bravour in der Lindenstadt absolviert. "Unser erster Lehrling kam 1977 aus Japan", sagt Wolfgang Otterpohl, verweist auf die sehr gute Zusammenarbeit mit der weltbekannten Schule in Pforzheim und die zahlreichen Lehrlinge aus den unterschiedlichsten Ländern, die in seiner Werkstatt die Kunst des Goldschmiedens erlernt haben.

Gesellenstück mit "sehr gut" benotet

Lu Chen öffnet den Deckel einer kleinen schwarzen Schachtel, in der er seine Schätze aufbewahrt. Vorsichtig nimmt er sein Gesellenstück heraus und legt es auf die Arbeitsplatte. Es ist ein fein gearbeiteter Armreif mit einem raffinierten Drehmechanismus, der zum Anlegen des Schmuckstückes geöffnet werden muss. 32 Stunden hatte Lu Chen Zeit, einen seiner beiden eingereichten Prüfungsentwürfe anzufertigen. Das Resultat fand bei der Kommission großen Anklang und wurde mit der Note sehr gut gewürdigt. Auch den zweiten Entwurf hat der 27-Jährige, der 2011 nach Deutschland kam, mittlerweile umgesetzt. Es ist auch ein Armreif, der mit hauchdünnen Goldblättern verziert ist. Um die über zwei Achsen rundlich gebogenen Blätter herstellen zu können, bekam Lu Chen Hilfe vom Team der ehrenamtlichen Initiative des »Job-Dialogs«. Die technisch versierten Ruheständler fertigten ein Werkzeug an, mit dessen Hilfe die hauchdünnen Blätter ihre Form erhielten. "Eine tolle Einrichtung. Die machen das mit viel Kompetenz und Freude", sagt Wolfgang Otterpohl anerkennend. Diese Freude zu seinem Beruf strahlt auch Lu Chen aus, der in der kurzen Zeit die deutsche Sprache nahezu perfekt gelernt hat.

Die Meisterschule im Visier

"Lu ist sehr wissbegierig. Wenn er etwas nicht versteht, schaut er sofort mit seinem Handy nach", sagt Wolfgang Otterpohl über seinen Gesellen und lobt dessen Aufgeschlossenheit. "Er hat keinerlei Berührungsängste und sich im kleinen Halle sehr schnell zurechtgefunden." Von der 23-Millionen-Metropole in die beschauliche Lindenstadt mit ihren knapp 22 000 Einwohnern - für Lu Chen kein Problem. "Er geht gern auf den Markt und kommt schnell mit den Menschen ins Gespräch", sagt Wolfgang Otterpohl und verrät ein kleines Geheimnis: "Lu Chen handelt gern, wenn er etwas kaufen möchte. Das ist bei Chinesen üblich und macht ihm unheimlich viel Spaß." Nach bestandener Gesellenprüfung wird der 27-Jährige für zwei Monate in seine Heimat zu seiner Familie und seinen Freunden fliegen. Doch das ist nur eine kurze Unterbrechung der Lehrzeit des Goldschmiedegesellen. Bereits im Mai wird Lu Chen in die Lindenstadt zurückkehren und in der Werkstatt von Wolfgang Otterpohl als Geselle weitere Erfahrungen sammeln. Anfang September 2016 geht der Geselle wieder nach Pforzheim und wird dort die Meisterschule besuchen. "In meiner Heimat gibt es wenig Handwerk, es überwiegt die industrielle Massenproduktion", berichtet der 27-Jährige. Wenn er den Meisterbrief in der Tasche hat, möchte er versuchen, sich in Shanghai mit seinem Kunsthandwerk zu etablieren. Die Voraussetzungen dafür könnten besser kaum sein.

Zwischen Shanghai und Halle

In der kleinen Werkstatt in Halle, deren Individualität und Vielseitigkeit von Kunden über die Grenzen Ostwestfalens hinaus geschätzt wird, wird Lu Chen in den kommenden Monaten noch viel lernen können. "Und ein deutscher Meisterbrief wird im Ausland wie ein Hochschulabschluss geschätzt", sagt Wolfgang Otterpohl. Derweil ist Lu Chen schon wieder in seine Arbeit vertieft. Eine Eigenschaft, die Wolfgang Otterpohl an dem jungen Mann mit den tiefschwarzen Haaren sehr schätzt: "Jetzt ist er ganz hier, lernt viele Menschen kennen, interessiert sich für alles und hat Spaß an seiner Arbeit. Und in ein paar Jahren wird er wieder ganz in Shanghai sein." Vom kleinen Halle in die 23-Millionen-Metropole.

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