Von kerstin spieker
Werther.
Viele Plätze in der Mensa der Peter-August-Böckstiegel-Gesamtschule sind besetzt. In kleinen Gruppen sitzen Schüler zusammen, sind über Texte und Bücher gebeugt, schauen sich Fotos auf Stellwänden an oder hören zu, was Gastreferenten ihnen erzählen. Ansonsten ist es leise in dem lichtdurchfluteten Saal. "Ich bin total beeindruckt von der Konzentration, mit der die Jugendlichen hier bei der Sache sind", sagt Bernd Wagner vom StadtarchivBielefeld.
Die Ruhe passt zum Thema des Tages. Es geht um den Holocaust. Für Schüler der Jahrgangsstufen neun und zehn steht die Auseinandersetzung mit der Ermordung von Millionen jüdischer Männer, Frauen und Kinder auf dem Stundenplan."Für viele der Schüler ist das heute zudem eine Vorbereitung auf ihre Reise nach Auschwitz", so Almuth Müller-Röhr. Gemeinsam mit ihrem Kollegen Manuel Feuß koordiniert die Lehrerin die intensive Auseinandersetzung mit dem Holocaust an der Gesamtschule. Zum fünften Mal geht es Mitte März nach Polen in das ehemalige Konzentrationslager Au-schwitz. Wie wohl kein zweiter Name steht Auschwitz für die Vernichtung jüdischen Lebens durch Nazideutschland. 147 Jungen und Mädchen der insgesamt 210 Zehntklässler an den beiden Gesamtschulstandorten Werther und Borgholzhausen werden Museum und Gedenkstätte, die das Lager heute ist, besuchen - freiwillig. Auch leistet jeder Reisende einen Eigenanteil von 50 Euro der Reisekosten. Der Rest in Höhe von 195 Euro pro Kopf ist durch Sponsorengelder abgedeckt. Auch die 14 Lehrkräfte, die die Fahrt begleiten, tun das freiwillig, in ihrer Freizeit und auf eigene Kosten. Die Reise ist keine Schulveranstaltung, sondern findet unter dem Dach der Gütersloher Falken statt.
Nur ein langes Wochenende haben die Jugendlichen für ihre Fahrt Zeit. Umso wichtiger ist da eine gute Vorbereitung auf das Thema schon in
Werther.
Das Bielefelder Stadtarchiv stellte Teile seiner Ausstellung »Bielefelder Deportation - es waren doch unsere Nachbarn« für die gestrige Veranstaltung in der Mensa zur Verfügung. Aufgezeigt wird darin, was über das Schicksal der Juden aus dem weiten Umland noch bekannt ist. Viele Dokumente, die darüber hätten Aufschluss geben können, zerstörten die Mörder selbst am Ende des Krieges. Doch man müsse davon ausgehen, dass mindestens 2000 Juden über die logistische Drehscheibe Bielefeld Richtung Osten deportiert worden seien, so Bernd Wagner.Was das mit der Geschichte Werthers zu tun hat, darüber hat die Arbeitsgruppe »Jüdisches Leben in Werther« zahlreiche Informationsmaterialien zusammengetragen. Den Gesamtschülern stellte der Arbeitskreis gestern einen Teil der daraus erwachsenen Ausstellung zur Verfügung. Arbeitsergebnisse aus Kunst- und Geschichtsprojekten sowie Tagebücher der Schülerreisegruppen, die in den vergangenen Jahren Auschwitz besuchten, rundeten die Exponate ab. Hinzu kamen Erlebnisberichte durch Zeitzeugen, die selber oder deren Eltern den Zweiten Weltkrieg erlebt hatten (siehe Extratext).
Die intensive Arbeitsatmosphäre in der Mensa verwunderte Almuth Müller-Röhr gestern nicht. "So nachdenklich und konzentriert kommen die Schüler auch aus Auschwitz zurück", ist ihre Erfahrung. Besonders ruhig war es gestern übrigens an dem Tisch, auf dem die Reisetagebücher der früheren zehnten Klassen auslagen. Die Jugendlichen berichten darin über Gesehenes und über Begegnungen in Auschwitz. Viele Einträge beschäftigen sich aber auch mit den Gedanken und Gefühlen der jungen Besucher. Ein Wertheraner Schüler versuchte sein Entsetzen in Worte zu fassen und schrieb angesichts des Ungeheuerlichen: "Was soll man da noch sagen?"