Von der Buchmesse
berichtet Silke Derkum
Versmold/Frankfurt. "Als meine Augen mit 95 so schlecht geworden waren, dass sie zum Lesen nicht mehr taugten ..." - "Wir hatten eine Tante Anne, die war gar keine richtige Tante ..." - "Als ich an dem Punkt stand, an dem mein Leben auf einmal sehr endlich schien ...". Was sich anhört, wie die Anfänge spannender Romane, wie die Worte geübter Schriftsteller, sind Texte von ganz normalen Menschen aus
Versmold.
100 von ihnen haben in einem sehr speziellen Buchprojekt nicht etwa ihre Lebensgeschichte erzählt, sondern über ihr Lieblingsbuch geschrieben. Der »Versmolder Kanon der Literatur« wurde nun auf der Frankfurter Buchmesse vorgestellt.Man sieht Thomas Schmitz und Dirk Uhlenbrock an, dass sie noch Hunderte Geschichten auf Lager hätten. Dass sie selbst noch immer fasziniert sind von den 2000 persönlichen Texten und Buchtipps, die sie in den vergangenen Wochen gesammelt und gelesen haben - und nun in Halle vier der Frankfurter Buchmesse vorstellen.
Der Essener Buchhändler Thomas Schmitz hatte die - eigentlich naheliegende, aber trotzdem ungewöhnliche - Idee, seine Kunden zu fragen: "Was lesen Sie wirklich?". Die Resonanz war so vielfältig und zahlreich, dass "ich es viel zu schade fand, die Idee nur in meiner eigenen Buchhandlung umzusetzen", erzählt er. Die beteiligten Buchmenschen aus 20 Buchhandlungen von Sylt im Norden der Republik bis Regensburg im Süden, die zur Präsentation erschienen sind, nicken begeistert.
So sind 20 Bände mit insgesamt 2000 Buchrezensionen und ganz persönlichen Geschichten entstanden, von denen der Versmolder Band einer ist. "Beim Setzen der Texte hatte ich das Gefühl, ein Soziogramm unserer Republik und unserer Gesellschaft vor mir zu haben", sagt Dirk Uhlenbrock, der als Grafikdesigner die Gestaltung der 20 Bände übernommen hatte und dabei manches Klischee bestätigt sah.
"Wir hatten klare Zeichenvorgaben gemacht, aber in Süddeutschland sind die Menschen eben so ausschweifend, dass wir den »Regensburger Kanon der Literatur« gleich um 160 Seiten erweitern mussten", erzählt Uhlenbrock augenzwinkernd und lobt dann die 100 Autoren aus Recklinghausen. "Die Leute im Ruhrgebiet hingegen reden Tacheles. Die haben sich an die Vorgaben gehalten und peng", sagt er und hat die Lacher auf seiner Seite.
"Ich habe beim Lesen der Texte den Unterschied zwischen einem Lehrer und einem pensionierten Lehrer kennengelernt", berichtet Thomas Schmitz schmunzelnd von seinen Erkenntnissen und auch von mancher Überraschung. So schrieb ein Rezensent, der als Bildungsbürger bekannt ist, nur einen einzigen Satz: "Dieses Buch kann ich nur wärmstens empfehlen, weil es das einzige Buch ist, bei dem ich herzlich gelacht habe."
Von der Vielfalt der Versmolder Rezensionen ist auch Eckehard Ringewaldt beeindruckt, der den Versmolder Kanon der Literatur für die Buchhandlung Krüger, die das Projekt vor Ort initiiert, bearbeitet hat. "Wir gelten hier immer als Provinz", sagt er, aber der Kanon zeige, dass man auch in der Fleischstadt mittendrin sei im literarischen Diskurs.
Was die 100 Versmolder Rezensenten zu Papier gebracht haben, hat Ringewaldt und Buchhändlerin Gesine Klack begeistert. Die Palette reicht vom Kinderbuch »Pu, der Bär« bis zur politischen Literatur von Franz-Josef Degenhardt, vom Fantasyroman »Die Nebel von Avalon« bis zu Kurt Tucholskys »Schloss Gripsholm«.
"Es waren einige Bücher dabei, die ich schon lange im Regal stehen, aber noch nie gelesen habe und mir nun unbedingt vornehmen werde", sagt Ringewaldt. Andere Titel waren auch für die beiden Buchexperten vollkommen neu. "Es waren wirklich gute Tipps", sagt Gesine Klack, "und auch manche Überraschung."
¦ Der »Kanon der Versmolder Literatur«, wie auch die Gesamtausgabe, ist ab Dienstag 21. Oktober in Versmold zu haben. Alle am Projekt Beteiligten erhalten bereits einen Abend zuvor (Montag, 20. Oktober) ein Exemplar. Die Präsentation mit geladenen Gästen findet ab 19.30 Uhr in den Räumen der Buchhandlung statt.