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"Kamera läuft, Ton läuft - und Action!"

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Von Anja Hanneforth

Werther.
Abgesenkte Bordsteinkanten, Rampen vor Geschäftseingängen, ein Lift in der Aula der Gesamtschule, eine verlängerte Grünphase an der Fußgängerampel am Böckstiegelplatz: In Werther wurde schon einiges für Menschen mit Behinderungen getan. Wohl einmalig in der Region dürfte allerdings sein, was sich Knut Weltlich, der viele dieser Dinge auf den Weg gebracht hat, nun überlegt hat: Der langjährige Schwerbehindertenbeauftragte der Firma Bertelsmann ist dabei, eine Stadtführung für Gehörlose zu erstellen. Die Aufnahmen unter Beteiligung von Stadtführer Wilhelm Redecker sind inzwischen im Kasten, im Herbst soll der Film, der mit Gebärdensprache unterlegt wird, über Weltlichs Internetseite www.werther-tv.de erscheinen.

Seit 2006 werden in Werther Stadtführungen angeboten. Sie nehmen die Gäste mit auf eine geschichtsträchtige Tour durch die Innenstadt, Stationen sind unter anderem das Storck-Haus, die St. Jacobikirche, der Venghauss-Platz, das Haus Werther, manchmal, wenn die Touren länger angelegt sind oder per Fahrrad unternommen werden, auch der jüdische Friedhof und das Böckstiegel-Haus. Sie alle gehen natürlich davon aus, dass die Teilnehmer den Ausführungen der Stadtführer lauschen können; dass er jemals Gehörlose in einer Gruppe hatte, kann Wilhelm Redecker nicht sagen.

"Und das ist doch schade", findet Knut Weltlich, dass auch für solche Menschen eine Stadtführung ermöglicht werden sollte. Und zwar am besten eins zu eins, will heißen: die Gehörlosen schließen sich einer »normalen« Gruppe an; statt dann unmittelbar den Worten des Stadtführers zu lauschen, nehmen sie ihr Smartphone oder Tablet zur Hand und rufen die entsprechende Internetseite auf. Auf ihr finden sie dann die Stadtführung mit allen ihren Örtlichkeiten wieder, übersetzt in Gebärdensprache.

"Denn zweifellos wäre es zu aufwendig, bei Stadtführungen jemanden dabei zu haben, der die Gebärdensprache beherrscht", ist Weltlich realistisch. Aber Barrierefreiheit sei nun einmal in der UN-Menschenrechtskonvention festgeschrieben worden. Und das hieße eben auch, ohne Einschränkungen an den Stadtführungen teilnehmen zu können.

Nachdem Knut Weltlich die Idee zu einer Stadtführung für Gehörlose hatte, zögerte er nicht lange. Er sprach mit Wilhelm Redecker, der sofort bereit war mitzumachen. An einem sonnigen Sommertag - "die Bilder auf dem Video sollen ja auch schön aussehen" - trafen sie sich vor dem evangelischen Gemeindehaus, um ihre Arbeit zu beginnen.

Knut Weltlich schulterte seine sieben Kilo schwere Filmkamera, rückte sein Stativ an den Ort der Wahl und schraubte die Kamera fest. Danach hieß es wie bei professionellen Aufnahmen für Film und Fernsehen: "Kamera läuft, Ton läuft - und Action." Oder jedenfalls so ähnlich, denn Weltlich und Redecker hatten zuvor genau besprochen, wo was mit welchem Inhalt gedreht werden sollte.

"Mein Text ist immer derselbe, ob heute bei den Filmaufnahmen oder bei meinen realen Stadtführungen. Das muss er auch sein, schließlich soll er später auch im Netz authentisch rüberkommen", betont Redecker.

Zwei Stunden dauern seine Stadtführungen in der Regel, die Filmaufnahmen waren indes deutlich aufwendiger. Und mehr noch: Fünf bis sechs Stunden reiner Aufnahmezeit folgen 100 oder mehr Stunden Produktionszeit. Die einzelnen Standorte der Stadtführung müssen zusammengeschnitten, die Aufnahmen mit dem Gebärdendolmetscher eingefügt und das Ganze internetfähig gemacht werden. "Für mich ist das aber keine Arbeit", sagt der gelernte Tonmeister Weltlich. "Mir macht das vor allem Spaß." Dass er dafür kein Geld bekommt, sondern im Gegenteil eine Reihe von Kosten hat, ist ihm egal. "Mir gehts hier nicht ums Geld. Ich möchte etwas für die Barrierefreiheit tun. Das ist mir wichtig."

Ganz gespannt auf das Ergebnis ist Wilhelm Redecker. "Ich finde das Projekt total spannend und muss sagen, dass die Aufnahmen für mich durchaus eine Herausforderung waren." Nun freut er sich auf den fertigen Film und hofft wie Knut Weltlich, dass dieser von gehörlosen Menschen auch angenommen wird.

Spätestens im Herbst soll die virtuelle Stadtführung auf der Internetseite Weltlichs zu sehen sein - ein Grußwort von Bürgermeisterin Marion Weike inklusive. Dazu wird der Film aller Voraussicht nach auf die Homepage der Stadt gestellt, "was mich natürlich sehr freut", so Weltlich.

Zumal der Wertheraner damit an einem EU-weiten Wettbewerb teilnehmen möchte, der anlässlich des »Internationalen Tages der Menschen mit Behinderung« am 3. Dezember in Brüssel ausgerufen wird und Städte auszeichnet, in denen besondere Projekte für Menschen mit Behinderung angestoßen wurden.

Denn besonders, das ist die Stadtführung für Gehörlose im kleinen Werther ganz sicher. Noch bevor der Film öffentlich zu sehen ist, hat Knut Weltlich bereits die erste Rückmeldung von einem gehörlosen Bekannten erhalten. "Endlich denkt auch mal jemand an uns", hätte dieser gesagt - und sich schon im Vorfeld sehr für den Film ohne Ton, dafür aber mit Gebärden bedankt.


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