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"Die Leistung anderer anerkennen"

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Steinhagen.
Gemeinsames Lernen ist der zeitgemäße Ansatz in der deutschen Schulpolitik. An der Steinhagener Realschule werden ab dem kommenden Schuljahr die ersten fünf Kinder mit besonderem Förderbedarf beschult. Schulleiter Frank Kahrau und seine Stellvertreterin Silvia Liebich erklärten Redakteur Jonas Damme, warum in ihren Augen der gemeinsame Unterricht Sinn macht und wie sich die Schule auf Kinder mit Behinderungen einstellt.

Warum befürworten Sie das neue System?

Silvia Liebich: Früher hatten die Eltern keine Wahl. Wenn festgestellt wurde, dass ein Kind sonderpädagogischen Förderbedarf hat, wurde es auf eine Förderschule geschickt. Heute können die Eltern selbst entscheiden, welche Schule sie wählen.

Was bedeutet denn nun eigentlich, dass die fünf neuen Kinder »sonderpädagogischen Förderbedarf« haben?

Frank Kahrau: Das ist unterschiedlich. Darunter sind Schüler, die die Förderschwerpunkte Lernen, Sehen und Emotionale und Soziale Entwicklung haben. Möglicherweise kommt noch ein sechstes Kind.

Und die sollen alle an der Realschule mithalten?

Kahrau: Nein. Erst mal muss man unterscheiden zwischen zielgleicher und zieldifferenter Integration, also der Frage, ob alle Kinder am Schluss dasselbe gelernt haben müssen. Wir müssen immer auf die Fähigkeiten der Kinder Rücksicht nehmen. Manche brauchen vielleicht im Unterricht mal eine Pause zwischendurch.

LIEBICH: Aber auch jetzt müssen wir unsere Kinder bereits individuell fördern und fordern.

Fühlen Sie sich den neuen Herausforderungen gewachsen?

Kahrau: Das ist auch für uns Neuland, aber wir haben gute Rahmenbedingungen.

LIEBICH: Wir stehen dem offen gegenüber und werden es Schritt für Schritt umsetzen.

Was verändert sich an der Schule?

Kahrau: Für ein Kind, das schlecht sieht, brauchen wir spezielle Unterrichtsmaterialien, zum Beispiel vergrößerte Kopien von Arbeitsblättern oder einen Tisch mit verstellbarer Arbeitsplatte und eine Lampe. Wenn die Beeinträchtigung noch größer wäre, müsste man sich vielleicht über Piktogramme auf den Fluren oder Farben Gedanken machen, damit das Kind weiß, wo die Klassen sind. Die Lösungen hängen vom Kind ab.

Kritiker behaupten, die Inklusion sei unterfinanziert und am Ende bliebe alles an den Lehrern hängen. Was sagen Sie dazu?

Kahrau: Unsere Rahmenbedingungen sind nicht unterfinanziert, im Gegenteil: Unser Träger (die Gemeinde, Anm. d. Red.) unterstützt uns über das normale Maß hinaus, auch in den Personalressourcen. Zum Beispiel indem wir jetzt einen FSJler (freiwilliges soziales Jahr) einstellen können.

Gibt es noch weitere personelle Veränderungen?

Kahrau: Grundsätzlich sind wir personell gut aufgestellt. Ab dem 1. August kommt für die sonderpädagogische Förderung noch ein Förderschullehrer mit 18 Wochenstunden an unsere Schule. Den müssen wir haben. Da weiß ich aber noch keinen Namen. Außerdem bekommen wir wegen unserer wachsenden Schülerzahl einen zweiten Konrektor zum nächsten Schuljahr. Der kommt von einer Realschule, die schon längere Erfahrung mit Inklusion hat.

Ist das Zahlenverhältnis von Schülern zu Pädagogen bei allen Inklusionsschulen gleich?

Kahrau: Ja. Aber wir haben ja auch noch die Falken (Studenten, die der Organisation »Die Falken« aus Bielefeld angehören, Anm. d. Red.) als Unterstützung. Die gehen mit in die Klassen, um zu helfen.

LIEBICH: ... als Teampartner.

Kahrau: Der Lehrer bereitet den Unterricht vor und die Falken unterstützen dann in der Klasse. Das hat keine andere Schule, da haben wir unser eigenes Steinhagener Modell entwickelt.

Wo liegt der konkrete Vorteil einer inklusiv arbeitenden Realschule gegenüber einer Förderschule?

Liebich: Ich habe viele Elterngespräche geführt. Manche davon fühlten sich und ihr Kind stigmatisiert. Dabei darf man die Förderschulen nicht unterschätzen: Die machen eine super Arbeit und für viele Kinder ist das mit Sicherheit die richtige Schule. Aber trotzdem finde ich es gut, wenn Eltern sagen können: Ich möchte, dass mein Kind an eine Regelschule kommt.

Aber ist dann nicht die Stigmatisierung das eigentliche Pro-blem?

Kahrau: Das ist ein gesamtgesellschaftliches Problem. Für viele gehört zum Status: Was trage ich, was fahre ich für ein Auto, wo geht mein Kind zur Schule?

LIEBICH: Die Leistung anderer sollte einfach mehr anerkannt werden. Nicht nur jemand mit Abitur hat seine Fähigkeiten bewiesen.

Also sollte jeder über seinen eigenen Blickwinkel nachdenken?

Kahrau: Inklusion bedeutet den Wandel in eine inklusive Gesellschaft. Wir Schulen machen nur den Anfang, aber die ganze Gesellschaft muss mitmachen. Jeder, der hier wohnt, muss sich fragen: Bin ich bereit für eine inklusive Gesellschaft?

Und was wird nun aus den Förderschulen?

Liebich: Das Gesetz hat Konsequenzen, auch für die Förderschulen. Die geben Lehrer ab. Dadurch entsteht Bewegung. Die Sonderpädagogen folgen den Kindern an die Regelschulen.

Und im schlimmsten Fall müssen Förderschulen wegen Schülermangel zumachen ...

Kahrau: Das wird auf weite Sicht der Fall sein. Aber nicht alle Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf sind inklusiv zu unterrichten. Da könnten wir an unsere Grenzen stoßen.

LIEBICH: Und wollen das überhaupt alle Eltern? Eine Frage die wir jetzt noch nicht beantworten können.

Kahrau: Wir bemühen uns jetzt erst mal, für unsere Schule die besten Startbedingungen zu schaffen.


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