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Der Traum von Menschlichkeit

Von Alexander Heim

Borgholzhausen.
Ja, keine Frage, dieses »Getrennt, aber gleich« war Daisy Werthan durchaus über viele Jahre ein Begriff. Der »Montgomery Bus Boykott« hat es bis in den von ihr so gern gelesenen »Atlanta Georgian« geschafft. Dass sie wohlhabend sei - davon will die jüdische Südstaatlerin nun wirklich nichts wissen. Um so schwerer wiegt der Vorschlag ihres Sohnes Boolie, dass es mit 72 Jahren und einem zerlegten Packard wohl an der Zeit sei, sich doch besser chauffieren zu lassen. Am Samstag und Sonntag verfolgten mehr als 400 Besucher auf der Freilicht- und Naturbühne ein Vierteljahrhundert im Leben der betagten Seniorin.

Sie - eine jüdische Weiße. Er - ein christlicher Schwarzer. Größer könnten auf den ersten Blick die Gegensätze zwischen Miss Daisy (Inez Timmer) und ihrem neuen Fahrer Hoke (Eddie Jordan) nun wirklich nicht sein. Gut, dass Sohn Boolie (Michael Schanze) so große Sympathien für den Arbeitssuchenden hegt. Das liegt zum einen an dessen selbst bekundeter Offenheit gegenüber jüdischen Mitbürgern. Zum anderen an der Vita, die selbst eine Stelle bei Richter Stone, einem Freund der Familie,  ausweist. Hoke bekommt den Job und Miss Daisy ein Problem mehr.

Miss Daisy begegnet ihrem neuen Fahrer dabei mit allerlei Vorurteilen, gespeist weniger von Rassismus denn durch einen seltsamen Standesdünkel. Schließlich stamme sie aus der Forsythe Street. Allein an diesen bescheidenen Verhältnissen will die frühere Lehrerin gemessen werden. So auch erklärt sich ihr Hang zu absoluter Sparsamkeit. "Je langsamer man fährt, desto weniger Benzin verbraucht man. Das hat mir mein Mann beigebracht", lässt sie Hoke wissen.  Und ist schier entrüstet, als sie feststellen muss, dass eine der von ihr natürlich genau abgezählten Seelachs-Konserven einer Plünderung zum Opfer gefallen ist.

Sie hatte es ja gleich gewusst, lässt sie Sohn Boolie da wissen. Doch da sind - bei allen Unterschieden auch die vielen Gemeinsamkeiten, die Miss Daisy und Hoke verbinden. Schließlich haben beide ihre Partner verloren. Schließlich sehen sich beide im Amerika der 1950er bis 1970er Jahre noch Diskriminierungen ausgesetzt. Schließlich tut jedem von beiden die Gesellschaft des anderen gut. Während Hoke ihr zu mehr praktischer Lebenstüchtigkeit verhilft, bringt sie ihm das Lesen und Schreiben bei. Und so werden sie im Laufe der Jahrzehnte schließlich zwei wahre Freunde, die sich in inniger und tiefer Zuneigung zugetan sind.

So halsstarrig Miss Daisy eingangs auch erscheint: Mehr und mehr bröckelt diese Fassade, bis am Ende Daisy und Hoke in gewisser Weise sogar fortschrittlicher erscheinen als Sohn Boolie und dessen Frau Florine, die in immer konservativeren Kreisen verkehren. Miss Daisy hingegen wird sogar zum Anhänger Martin Luther Kings. Doch dass Hoke sie begleitet, das geht ohne Weiteres nicht. Und so muss sie sich doch erinnern lassen: "Die Zeiten haben sich zwar geändert, Miss Daisy. Aber so sehr auch wieder nicht."

Ein Tabu wagen Miss Daisy und Hoke ohnehin nicht zu brechen: sie werden kein Paar. Nicht dem äußeren Anschein nach. Nicht im engeren Sinne. Eigentlich sind sie es längst.

Mit wenig Bühnenbild kamen die allesamt großartigen Inez Timmer, Eddie Jordan und Michael Schanze bei der Inszenierung aus und haben die Besucher mit viel Darstellungskraft auf eine Reise durch die Südstaaten mitgenommen. Nicht nur die plötzlich benötigte Brille, Miss Daisys  langsamer werdende Schritte oder ein stärker schmerzendes Knie sollten den Alterungsprozess deutlich machen. Auch anhand bekannter Melodien - von Glenn Miller über Elvis Presley bis hin zu Brown Eyed Girl - wurde die Vergänglichkeit der Zeiten angedeutet. Bis Miss Daisy schließlich an Demenz erkrankt und in ein Pflegeheim geht, in dem Boolie sie besucht. Und selbstverständlich auch Hoke. Und wer, wenn nicht er, könnte es sein, der der Seniorin dort das Essen reicht? Und damit ein Stück weit  den (amerikanischen?) Traum des Martin Luther King hat wahr werden lassen.    


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