Quantcast
Channel: Haller Kreisblatt
Viewing all articles
Browse latest Browse all 3262

Hochburg des Jungdeutschen Ordens

$
0
0

Von Rolf Uhlemeier

Halle.
"Ich habe mich schon als Kind über diese merkwürdigen Bodenwellen gewundert." Katja Kosubek sitzt auf einem der vielleicht schönsten Plätze in Halle und blickt hinüber zur großen Wiese zwischen der Schützenhalle und dem Bergkamp. Selbst von der Bank am dicht bewachsenen Waldrand oberhalb der Wiese lassen sich die leichten Wellen klar erkennen. "Noch deutlicher wird es, wenn man sie von der Straße aus betrachtet", sagt die Haller Historikerin. Ihrer Ansicht nach könnten es die noch sichtbaren Überreste von Terrassen sein, die in längst vergangenen Tagen angelegt worden sind.

Möglicherweise entstanden sie zu Zeiten des ehemaligen Landschaftsparks der Familie Hagedorn um 1800. Denkbar sei es nach Ansicht der Haller Historikerin auch, dass die abgestuften Ebenen von den Nazis für große Aufmärsche angelegt worden sind. Sie könnten aber auch aus der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg (1914 bis 1918) stammen, als in Halle eine heute weitgehend vergessene Bewegung ihre Blütezeit erlebte. "In den frühen 20er Jahren war die Region Minden-Ravensberg eine Hochburg des Jungdeutschen Ordens", erklärt die Kuratorin des Internetmuseums »Haller ZeitRäume« und berichtet weiter: "Schon früh hat sich in der damaligen Kreisstadt Halle eine sogenannte Gefolgschaft zusammengefunden, darunter angesehene Honoratioren wie Amtsgerichtsrat Hermann Ostendorf und der junge Holzkaufmann Heinrich Thomas."

Ein beliebter Treffpunkt der Vereinigung war die Gaststätte Brune im Haller Stadtzentrum, die bekanntlich seit kurzer Zeit eine neue Besitzerin hat. Die Zahl der Ordensbrüder der nationalistisch ausgerichteten Bewegung stieg in der Lindenstadt derart schnell an, dass sie schon am 29. April 1923 mit einem großen Fest zur Bruderschaft erhoben wurde.

Aus Berichten in mittlerweile historischen Ausgaben des Haller Kreisblattes lässt sich ablesen, welch große Bedeutung das Fest für Halle hatte. "Mit Sonderzügen kamen die Jungdeutschen aus der Umgebung nach Halle", berichtet Katja Kosubek: "Zwischen der Gaststätte Hollmann und der Bahnlinie nahmen mehr als 1000 Menschen Aufstellung für den Festmarsch hinauf zum Schützenberg."

Dabei erinnerten nicht nur die geschwungenen Kreuze auf der Ordensfahne an die mittelalterlichen Kreuzritter. Bei kühlen Temperaturen und einsetzendem Regen machte sich der Tross auf den Weg - angeführt von zwei Ordensrittern auf ihren Pferden. "Auf dem Lindenplatz gabs einen Zwischenstopp", beschreibt die Historikerin die Szenerie, "und die Bevölkerung schaute sich den Aufmarsch mit großen Augen an." Auf dem Gelände an der Schützenhalle wurden dann Reden gehalten und Hermann Ostendorf als Großmeister der neuen Haller Bruderschaft feierlich vereidigt.

Möglicherweise hatte man die Terrassen eigens für diesen Anlass angelegt. "Da hätte ich gern einen Geoscan des Gebietes", sagt Katja Kosubek, die das Rätsel um den Ursprung der Bodenwellen nur zu gern entschlüsseln würde.

Im Gegensatz zur Gegenwart war der Schützenberg im vergangenen Jahrhundert ein Ort der großen Zusammenkünfte und Versammlungen. In der Tradition der Sonnenwendfeiern wurde im Juni 1925 ein riesiges Sommerfest gefeiert. Hier tat sich die »Schwesternschaft des Jungdeutschen Ordens« besonders hervor, die in Halle wohl nicht wenige Anhängerinnen hatte. "Die Menschen haben sich versammelt, es wurden Reden gehalten, die Kapelle spielte einen flotten Marsch und Jungbruder Witte trug einige Verse vor", berichtet Katja Kosubek. Bis zum Einbruch der Dunkelheit sorgten Sing- und Tanzspiele für Unterhaltung und dann wurde das große Sonnenwendfeuer angezündet. "Hier war richtig was los", sagt Katja Kosubek und blickt hinüber zur Schützenbergwiese auf der heute nur noch die Strohscheiben der Bogensportabteilung der Schützengesellschaft dem einsetzenden Nieselregen trotzen.

Zeugnisse aus der Zeit des Jungdeutschen Ordens lassen sich noch heute finden. Das Haller Internetmuseum verfügt über zwei Bierkrüge, auf deren Deckel das Ordenskreuz der Bruderschaft eingraviert ist. Es handelt sich um eine Schenkung der Familie Thomas. Vermutlich waren sie eine Hochzeitsgabe des Ordens an Elisabeth und Heinrich Thomas.

Im Historischen Museum in Bielefeld kann man eine Puppe bewundern, die ebenfalls aus der Hochzeit der »Jungdeutschen« stammt. Ein besonderes Anliegen der Schwesternschaft war es, das Brauchtum zu pflegen und zu bewahren. "1926 erging der Aufruf, die vom Verschwinden bedrohten deutschen Volkstrachten durch Anfertigung einer Puppentracht zu dokumentieren", berichtet Katja Kosubek und erinnert sich daran, dass sie die Haller Puppe mit der Ravensberger Tracht als Praktikantin im Historischen Museum in Bielefeld zum ersten Mal bestaunt hat: "Dort kann man noch etwa 50 weitere Trachtenpuppen bewundern."

Waren die »Jungdeutschen« zunächst durchaus eine Konkurrenz für die Nationalsozialisten, so entwickelten sie sich später aus der nationalen Ecke hin zur politischen Mitte und wurden von den Nazis 1933 verboten. Artur Mahraun, der Gründer des Ordens, lebte zwischenzeitlich in Gütersloh, wurde später verfolgt, musste untertauchen und seine Spuren verwischen.

Katja Kosubek und ihre Mitstreiter von den »ZeitRäumen« haben schon viele Spuren Haller Geschichte gefunden und dennoch sind noch viele Fragen offen - wie die nach den Bodenwellen am Schützenberg zum Beispiel.


Viewing all articles
Browse latest Browse all 3262