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Angeklagter lächelt zum Prozessauftakt

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Von Silke Derkum

Versmold/Bielefeld. Mit festem Blick begegnet Jens S. den zahlreichen Objektiven der Kameras, die ihn aus nur etwa drei Metern Abstand unaufhörlich ins Visier nehmen. Minutenlang richtet er die Augen ruhig auf die Bild- und Fernsehjournalisten, lächelt dabei und scheint keine Furcht vor den Pressevertretern zu haben und davor, dass sie sein Bild in die Öffentlichkeit tragen werden. Der Auftakt des Prozesses, in dem der Doppelmord an einem Gütersloher Geschwisterpaar an Heiligabend aufgeklärt werden soll, begann gestern Mittag mit einem entspannt und selbstsicher wirkenden Angeklagten - und mit einem extrem ungewöhnlichen Statement.

Jens S. hat sich auf seinen Auftritt im Saal 1, dem größten Saal des Bielefelder Landgerichts, vorbereitet. Als er in Begleitung von Justizbeamten und seines Anwalts durch die Tür tritt, hält er ein etwa DIN-A4-großes Pappschild in der Hand. Doch nicht, um damit - wie häufig üblich - sein Gesicht zu verdecken, sondern um ein Statement abzugeben. »Schuldfrei« steht mit Filzstift auf dem Schild geschrieben, das ein erstes Raunen unter den etwa 60 Zuschauern und 20 Medienvertretern auslöst.

"Schuldfrei ist mit unschuldig zu übersetzen, ob es das richtige Wort ist, muss man klären", wird später Verteidiger Carsten Ernst gegenüber Journalisten über die ungewöhnliche Geste wie auch die Formulierung sagen.

Doch zunächst beginnt die Verhandlung. Um 12.10 Uhr eröffnet Richterin Jutta Albert, Vorsitzende der X. Großen Strafkammer, das Verfahren mit Fragen zur Person des Angeklagten. Mit fester und in dem großen Saal gut verständlicher Stimme macht der 29-jährige gebürtige Versmolder Angaben zu Namen, Alter und Wohnort. Letzterer liegt seit dem 10. Februar in der Justizvollzugsanstalt in Bielefeld-Brackwede.

Dann hat Oberstaatsanwalt Christoph Mackel das Wort, um die Anklageschrift zu verlesen. Und deren Inhalt verlangt den Zuhörern einiges ab. Er wirft dem zuletzt in Verl gemeldeten S. vor, die Ärztin Helgard G. (74) und den pensionierten Lehrer Hartmut S. (77) heimtückisch getötet zu haben, außerdem wirft er ihm versuchten Mord zur Verdeckung einer Straftat vor.

Die Straftat selbst wird vor allem in medizinischen Details geschildert. S. habe Helgard G. seit 2012 oberflächlich gekannt. Er war als gelernter Klempner und Bekannter von G.s Tochter ab und an für Installationsarbeiten im Haus und um mit der Wünschelrute nach Wasseradern zu suchen, schickt Mackel voraus, und S. hört ihm regungslos zu.

Als S. am 24. Dezember das Haus der Geschwister am Gütersloher Stadtpark mit einer Flasche Rotwein im Gepäck aufgesucht haben soll, soll zunächst nur Helgard G. ihn empfangen und bewirtet haben. Dann soll S. sich entschlossen haben, sie zu töten und habe mit einem mitgebrachten Messer auf sie eingestochen, sagt der Staatsanwalt, und der Angeklagte zeigt erstmals während der Verlesung eine Reaktion, schüttelt langsam, aber deutlich den Kopf.

Mackel schildert den Kampf zwischen der Ärztin und ihrem Mörder, wie er sich aufgrund der Stichverletzungen zugetragen haben muss. Als die 74-Jährige bereits schwer getroffen auf die Knie sinkt, soll ihr Mörder ihr mit dem Messer ins rechte Auge gestochen haben. An dieser Stelle der Schilderung ist es vorbei mit der Contenance der Zuschauer. Ein kollektiver, unterdrückter Aufschrei ist von den Bänken zu hören und genau wie das Publikum schüttelt auch Jens S. angesichts der schaurigen Schilderung mit geschlossenen Augen und zusammengekniffenem Gesicht angewidert den Kopf.

Mackel fährt in seiner Schilderung fort, beschreibt, wie Hartmut S. seiner Schwester zu Hilfe geeilt sein soll. Wie auch er mit elf Stichen an den unterschiedlichsten Körperstellen so verletzt worden sei, dass er kurze Zeit später am Blutverlust starb. Und wie zuletzt der Colliemischling, der "sich neben sein Herrchen gesetzt hat" mit sechs Stichen ebenfalls getötet wurde.

Nach der Bluttat soll der Täter 700 Euro Bargeld mitgenommen und im oberen Stockwerk den Gasherd angestellt haben, damit eine spätere Explosion seine Spuren verdecken würde. S. folgt den weiteren Vorhaltungen wieder reaktionslos. Er werde sich im zweiten Verhandlungstag, wenn sein - derzeit in Urlaub befindlicher - Hauptverteidiger Sascha Haring dabei sei "aller Voraussicht nach" zur Tat einlassen und seinen Verteidiger eine Erklärung verlesen lassen, sagt Rechtsanwalt Ernst. Ob er sich auch zu seiner Person einlassen werde, müsse noch abgeklärt werden.

Dann ist der erste Verhandlungstag beendet. Ein großer Teil der Zuschauer hat bereits den Saal verlassen, als Jens S. immer noch mit seinem Anwalt am Tisch für den Angeklagten sitzt, sich unterhält und dann entspannt - so scheint es - durch die Hintertür den Gerichtssaal zurück in die Untersuchungshaft verlässt.

Der zweite Prozesstag ist für Montag, 18. August, um 12 Uhr angesetzt. ¦ OWL


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