Von Uwe Pollmeier
Steinhagen. Möglicherweise muss das Märchen »Die drei kleinen Schweinchen« bald umgeschrieben werden. In der Geschichte pustet der Wolf problemlos Stroh- und Holzhaus samt darin lebendem Borstenvieh locker weg, beim Steinhaus hingegen kapituliert er. Vielleicht kommt bald eine vierte Bauvariante hinzu, die nur auf den ersten Blick wie eine leichte Beute für den Wolf erscheint. Die indische Architektin Dr. Anupama Kundoo entwirft Häuser für die Dritte Welt - wenig Material, wenig Arbeitseinsatz und dennoch viel Stabilität. Eins davon entsteht - in dieser Form als erstes weltweit - derzeit am Steinhagener Gymnasium.
"Durch die richtige Anordnung der dünnen Strukturen erhält das Gebäude eine Stabilität", erklärt Kundoo bei ihrem gestrigen Besuch des Steinhagener Gymnasiums. Die im indischen Pune geborene und heute in Australien lebende Architektin setzt bei ihrer Arbeit auf umweltfreundliche Materialien, die nur in geringsten Mengen eingesetzt werden. "Durch unser Wissen können wir viel Material sparen", erklärt Kundoo, die eigens für ihren Besuch in Steinhagen aus Madrid, wo sie derzeit an der Hochschule einen Lehrauftrag hat, eingeflogen ist.
Die Verbindung zwischen der Schule und der Architektin hatte Stephanie Wameling geknüpft. Die Steinhagenerin war auf die Inderin bei der Ausstellung »Neue Bescheidenheit - Architektur in Zeiten der Verknappung« des Bielefelder Kunstvereins aufmerksam geworden. Dort hatte Kundoo ein Modell ausgestellt, das aussieht wie aus einem Blatt gefaltet und für das nur geringste Materialmengen eingesetzt wurden. Wameling erstand das Modell und überließ die Dreieckskonstruktion dem Gymnasium mit der Bitte, daraus in einem Schülerprojekt einen Pavillon zu bauen und somit die damit verbundenen ökologischen Ideen der Architektin zu vermitteln.
Das Thema wurde von Schülern der Jahrgangsstufe neun im Differenzierungskurs der Mathe- und Physiklehrerin Vera Linn aufgegriffen. In den vergangenen zwei Wochen haben die 17 Kursteilnehmer das in Einzelteile zerlegte Musterstück aus Schaumstoff wieder aufgebaut. "Wir mussten es auseinandernehmen, weil es sonst gar nicht durch die Tür gepasst hätte", sagt Linn. Es wird nun in den kommenden Tagen mit Maschendrahtzaun und Ferrozement versehen, um die nötige Stabilität zu erhalten. Anschließend wird das Musterstück durch drei weitere gleichartige Elemente ergänzt, so dass ein etwa vier Meter langer Pavillon entsteht, unter dem sich die Schüler zukünftig in den Pausen aufhalten können.
Für den Unterbau des Unterstands hat der Bauhof der Gemeinde Steinhagen gesorgt. "Der Pavillon wird aussehen wie ein gefaltetes Origami-Kunstwerk", vergleicht Linn die entstehende Arbeit mit der japanischen Papierfaltkunst. In der gefalteten Form könne das Bauwerk viel mehr Kräfte aushalten. "In unserem Projekt sollen die Schüler lernen, wie man ökologisch baut und wie einfache Strukturen große Kräfte aushalten", sagt Linn.
Kundoo zeigt sich begeistert davon, dass die Schüler ihre Idee aufgreifen. "Ich freue mich darüber und unterstütze die Schüler gerne", sagt die Architektin. So etwas sei wohl nur in Deutschland möglich. Sie sei begeistert von dem Land, in dem sie selbst einst lebte und wo sie an der Technischen Universität (TU) Berlin promovierte. "Hier kann jeder das machen, was er gerne möchte."
Sie hilft den Schülern, die ersten Elemente des Pavillons mit Maschendrahtzaun und Ferrozement zu versehen und sorgt mit ihrem Besuch für den richtigen Motivationsanschub. "Ein Hausbau muss nicht teuer sein, jeder kann sein eigenes Haus bauen", nennt Kundoo das Ziel ihrer architektonischen Ideen. Die von ihr entwickelte Bauweise soll es Menschen in armen Ländern ermöglichen, sich zukünftig ihre eigene Unterkunft bauen zu können.
Unterstützung erhält das Projekt von Dr. Arndt Goldack von der TU Berlin, der im Bereich der Anwendung von Ferrozement forscht, sowie vom Handwerksbildungszentrum (HBZ) Brackwede. Stuckateurlehrling Jonas Heinemann zeigt den Schülern, wie der Zement angerührt und wie durch dessen Auftragen auf die mit Maschendrahtzaun überspannten Schaumstoffstücke Stabilität erzielt wird.
Der am Steinhagener Gymnasium entstehende Pavillon ist bisher weltweit einzigartig. Zwar gibt es schon ein ähnliches Modell in Indien. Jedoch wurde bei dem statt eines Drahtgeflechts noch ein Stahlgerüst verwendet.