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Von Hoffnung und Kraft eines Menschen

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Von Nicole Donath

Halle.
Wie viel Kraft muss ein Mann aufbringen, der mit gerade mal 26 gefangengenommen und in ein fremdes Land verfrachtet wird - und dort die nächsten fünf Jahre seines Lebens darauf hofft, dass er seine Familie und seine Heimat eines Tages noch einmal wiedersieht? Millionen von Menschen mussten diese Kraft während des Zweiten Weltkriegs aufbringen - so auch der Franzose Georges Daout, der am 12. Juni hundert wird und mittlerweile in einem Seniorenheim in Frankreich lebt. Er arbeitete bis 1945 auf dem Künsebecker Hof Schlien-kamp an der Zuckerrübenpresse.

Wenngleich der alte Mann noch lebt, kann er offenbar nichts mehr über diese Zeit erzählen. Deshalb wandte sich seine Tochter Annie Hyve im Frühjahr an »Amicale«, eine Interessengemeinschaft von Angehörigen ehemaliger Kriegsgefangener mit Sitz in Hemer. Deren Sprecherin Regine Hessling wiederum suchte Hilfe bei Wolfgang Kosubek aus Halle - und fand sie dort.

Über drei Monate begab sich der Haller Stadtführer, dessen Tochter Katja das virtuelle Museum »Haller ZeitRäume« leitet, auf Spurensuche und wurde fündig. Die Ergebnisse ließ er dem Verein Amicale sowie der Tochter von Georges Daout zukommen und machte die Beteiligten damit glücklich. Glücklich, weil ihnen und Georges Daout auf diese Weise noch mal ein Stück der Nähe zugewachsen ist. Weil sie nun besser nachvollziehen können, was er erlebt hat - und was ihn prägte. Und vielleicht, ja vielleicht brachten die Nachrichten aus Halle auch etwas Erleichterung, denn ganz offenbar zählen seine Jahre auf dem Hof Schlienkamp zu den positiven Beispielen in einer ansonsten fürchterlichen Zeit.

"Am Ende des sogenannten Blitzkrieges, der etwa sechswöchigen Militäroffensive gegen die Beneluxstaaten und Frankreich, wurden rund 1,6 Millionen französische Soldaten in deutsche Gefangenschaft genommen, unter ihnen der französische Sergeant Georges Daout", berichtet Wolfgang Kosubek. Zu Fuß mussten er und alle übrigen Gefangenen den Marsch nach Deutschland antreten, um hier als Arbeitskräfte eingesetzt zu werden. Die erste Station war das Straflager in Dortmund, von dort aus ging es für den jungen Vater weiter nach Künsebeck. "Weil Georges Daout Unteroffizier war, durfte er laut Genfer Konvention eigentlich nicht zur Fabrikarbeit eingesetzt werden", erklärt Kosubek. "Und weil der Mann für die Arbeit an der Flachsröste vorgesehen war, hätte er dies ablehnen können." Doch wer das versuchte, dem wurde die Verpflegung gekürzt: "Eine rüde Methode, die selten ihren Zweck verfehlte. Auch nicht bei Georges Daout."

So kam es, dass der Bank-angestellte, den Wolfgang Kosubek als "aufgeschlossenen, tüchtigen und cleveren jungen Mann" beschreibt, lernen musste, in Gummistiefeln zu arbeiten: zunächst in der Künsebecker Flachsröste, wo er Kontakte zum Werksorchester der Dürkoppwerke knüpfte, weil er Klavier und Gitarre spielte. "Zu diesem Zeitpunkt hatte der Gefangene mit der Nummer 16 241 seinen Arbeitsplatz bereits bei Bauer Schlienkamp. Er half bei der Landarbeit und lernte durch den Sohn des Hofes Deutsch. Das Besondere auf dem Hof Schlienkamp war die Zuckerrübenpresse, über die ein großer Artikel in der Ausgabe des Haller Kreisblattes vom Wochenende des 18./19. März 1944 veröffentlich wurde und die Georges Daout auch nach Hause geschickt hat. Offenbar", so interpretiert Wolfgang Kosu-bek diesen Brief in die französische Heimat, "war der Mann schon etwas stolz darauf, seinen Lieben zeigen zu können, wie sein vorübergehendes Leben aussieht." Dass Daout überhaupt Briefe an seine »petite femme cherie«, seine kleine, liebe Frau, schreiben und auch welche empfangen durfte, war nicht selbstverständlich, zeugt aber von dem guten Verhältnis zwischen den Schlienkamps und dem Franzosen.

Darüber hinaus fand Wolfgang Kosubek ein Attest der bekannten Haller Ärztin Dr. Margarethe Oing, in dem Georges Daout am 21. August 1942 ein Leistenbruch bescheinigt wird und der einen Aufenthalt im Haller Krankenhaus anrät. Letztlich wurde Daout im katholischen Krankenhaus Dortmund-Kirchlinde, das zum Stalag Dortmund gehörte, operiert - inklusive acht Tage Schonung bis zum Eingriff und weiteren zwei Wochen Erholung danach. Außerdem verfügte der Stabsarzt einen weiteren Monat lang nur leichte Arbeit.

Warum Daout im Juni 1943 einen französischen Reisepass beantragte, ist nicht bekannt. Und wenngleich er seiner geliebten Frau Solange im April 1944 ein neues Passbild zusandte, durfte er dennoch nicht nach Hause. Erst die Befreiung durch die Alliierten im April 1945 brachte die Erlösung: für die vielen Kriegsgefangenen und für Georges Daout, dessen Freund Boniface Juana von den Schlien-kamps für seine Heimkehr nach Frankreich sogar ein Motorrad zur Verfügung gestellt wurde.

Wenn Wolfgang Kosubek wüsste, dass er sich mit Georges Daout noch über die Zeit in Künsebeck unterhalten könnte - er würde sofort nach Frankreich reisen. Vielleicht zu dessen 100. Geburtstag, vielleicht auch einfach so. Um zu erfahren, wie viel Kraft ein Mensch aufbringen muss, fünf Jahre lang nicht die Hoffnung auf ein Wiedersehen mit seiner Familie zu verlieren. Wie viel Kraft man dafür aufwenden muss. Und was all das mit einem macht.


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