Von Anke Schneider
Borgholzhausen.
"Krieg! Noch zittert in aller Herzen der schauerliche Klang der Sturmglocke nach." Mit diesem Satz über die Mobilmachung am 2. August 1914 beginnt die einzigartige Kriegschronik des Ersten Weltkrieges, die es im Borgholzhausener Stadtarchiv gibt. Von "freudigem Stolz, dabei zu sein bei des Vaterlands großer Taten", ist die Rede. Vom "Willen zum Sieg, der aus aller Augen glänzt". Und dann erzählen eine ganze Reihe von Borgholzhausener Bürgern ihre Geschichte.»Das Eiserne Buch« haben die Amtmänner des Amtes Borgholzhausen und seiner zwölf Gemeinden die Chronik genannt. Es sollte nachfolgenden Generationen einen Eindruck der tief einschneidenden Ereignisse geben, denen auch Borgholzhausen unterworfen war. "Es ist erstaunlich, wie akribisch genau die Geschehnisse berichtet werden", sagt Rolf Westheider. Eine so detaillierte Kriegschronik sei ihm bisher nicht untergekommen. Wer das riesige Buch mit seinem aufwendig gearbeiteten Einband betrachtet, der staunt. Auf den Seiten sind die Blätter eines DIN-A5 großen und 112 Seiten starken, gedruckten Heftes aufgeklebt. Viele Seiten des Buches sind leer. "Im Vergleich zum Einband sehr einfach gemacht", sagt Westheider. Der Inhalt aber hat es in sich.
Auf den ersten Seiten sind alle Männer nach Gemeinden alphabetisch sortiert genannt, die am Krieg beteiligt waren - samt ihrem Regiment, ihrem Bataillon, ihrem Dienstgrad und ihren Auszeichnungen. Gefallene Soldaten sind mit einem Kreuz, Tag und Ort ihres Todes gekennzeichnet. Vermisste sind ebenfalls kenntlich gemacht. Mehr als 1000 Namen finden sich auf den ersten Seiten.
In der dann folgenden Kriegschronik wird zwar auch von den globalen Geschehnissen berichtet, im Vordergrund stehen aber die lokalen Ereignisse in
Borgholzhausen.
"Da geht es zum Beispiel um die Auswirkungen des Krieges auf Landwirtschaft und Gewerbe", sagt Rolf Westheider. Es gab eine ganze Reihe kriegswirtschaftlicher Einschränkungen. Weil Lebensmittel und Rohstoffe knapp wurden, wurde immer mehr rationiert und beschlagnahmt. Im Kapitel »Das Jahr 1915« liest man, dass die Einfuhr von Lebensmitteln und Rohstoffen aus dem Ausland "fast gänzlich unterbunden ist". Es ist die Rede vom Verbot, Getreide an Tiere zu verfüttern. "Wer Brotgetreide verfüttert, versündigt sich am Vaterland."Ernten werden beschlagnahmt, was den Landwirten offenbar sauer aufstößt. "Viele Maßnahmen sind für die Landwirtschaft von so einschneidender Wirkung, dass sie in manchen harten Kopf nicht hineinwollen", schreibt der Autor Wilhelm Knehans. Ein paar Seiten später stellt er fest: "Deutschland gleicht einer Festung, die mit der Erzeugung der erforderlichen Lebensmittel und der Beschaffung gewaltiger Mengen an Munition [...] vor einer der größten Aufgaben steht, die ein Volk in der Weltgeschichte zu lösen hat."
Um dem Mangel an landwirtschaftlichen Arbeitskräften entgegenzuwirken, werden in verschiedenen Teilen Piums Kriegsgefangenenlager für Engländer und Franzosen eingerichtet. Eines davon bei Niederlücke in Holtfeld. Aber auch das Gewerbe leidet: Die Zwangskonfiszierung von Metallen, Stoffen und Fellen, Chemikalien und Benzin, Kautschuk und fertigen Reifen bringt Engpässe mit sich. "Der sogenannte »Steckrübenwinter« 1916/17 war durch Missernten bei den Kartoffeln besonders hart und hat die Menschen nachhaltig geprägt", so Westheider. "Wirklich hungern musste hier aber niemand." In Borgholzhausen seien die Menschen im Wesentlichen Selbstversorger gewesen. Trotz immer mehr Einschränkungen schaute man in Pium offenbar stets zuversichtlich in die Zukunft, feierte des Kaisers Geburtstag mit großen Festen und zog etwas anderes als den Sieg zunächst nicht in Betracht. Bei den Gefallenen, die in der Zeitung veröffentlicht wurden, redete man von "Opfern fürs Vaterland, die in Liebe und Pflichterfüllung getreu bis in den Tod" dienten.
"Es ist erstaunlich, dass die Menschen den Krieg ohne Emotionen aufgenommen haben müssen", so Westheider. Rund um die Ravensburg seien die Menschen offenbar sehr preußisch gewesen, hätten den Krieg als gegeben akzeptiert und nicht hinterfragt, ob man irgendetwas hätte verhindern können. "Das war nationale Pflicht, da machte man eben mit", hat der Historiker festgestellt. Ein Verhalten, das heute auch wieder zu beobachten sei, bemerkt Westheider nicht ohne Sorge mit Blick auf die Ukraine. Eine Verkettung von Bündnisverpflichtungen habe es damals schon gegeben, so wie auch heute.
Die Chronik reicht schließlich über das Ende des Krieges hinweg und beschreibt in dem Kapitel »Die Revolution und die Folgezeit« unter anderem die Inflation. "Während ein Arbeiter vor dem Krieg für einen Tagelohn von 3,50 Mark sieben Meter Hemdentuch kaufen kann, bekommt er heute für einen Tagelohn von 600 Mark nur noch zwei Meter." Zum Ende der Chronik ist aber auch vom Aufschwung die Rede.
"Die Kalkindustrie ist bei lohnenden Preisen vollauf beschäftigt", heißt es. Viele Borgholzhausener Firmen haben neu oder angebaut. Vereine wie der Kirchenchor werden gegründet, durch Trockenlegung alter Rötekuhlen entsteht ein Gelände, auf dem ein "mustergültiger Sportplatz" errichtet wird, und Borgholzhausen plant eine Badeanstalt. Aber auch von Narben, die der Krieg hinterlassen hat, schreibt der Chronist: "Besinnen wir uns in verzweifelter Lage auf uns selbst. Tun wir ... was in unseren Kräften steht. Dann ist, wenn nicht alles, doch vieles gewonnen."
Im dritten Kapitel des Buches kommen einzelne Borgholzhausener Bürger zu Wort und berichten vom Krieg aus ihrer Sicht. Unter anderem Wilhelm Schlömann, Fritz Poppenburg und Anna Gräfin von Korff, genannt Schmising-Kerssenbrock. "Interessant finde ich vor allem die Geschichte von Julius Knoop, der den Kaiser nach Holland ins Exil gefahren hat", so Westheider. Knoop war für die Automobilflotte des Kaisers zuständig und hat ihn während des Krieges unter anderem zu verschiedenen Schlachtfeldern gefahren. "Welch herrliche Erinnerung sind für mich die Fahrten, die ich mit seiner Majestät zu den siegreichen Truppen machte", schreibt Knoop.
Wortreich beschreibt er dann auch den 10. November 1918, den Tag nach der Abdankung des Kaisers. "Welch große Veränderung war in wenigen Stunden mit seiner Majestät vor sich gegangen. Er war um Jahre gealtert. Sein Reich sah er in Trümmern vor ihm liegen."