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Die Stromtrasse im Garten

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VON HEIKO KAISER

Halle-Hesseln. Kerstin und Harald Niemeyer stehen unter Strom. Zurzeit nur im übertragenen Sinne. Doch womöglich kann dieser Satz schon bald wörtlich genommen werden. Seit die Pläne für den Bau der neuen 380-kV-Stromleitung bekannt sind, hat das Ehepaar aus Hesseln keine ruhige Minute mehr. Die geplante Trasse soll mitten über ihr Grundstück verlaufen.

Auf dem Küchentisch liegen zahlreiche Dokumente und Planzeichnungen. Kerstin Niemeyer sitzt auf dem Stuhl davor und blickt durch die geöffnete Terrassentür. Im Garten stehen die Apfelbäume in voller Blüte. Weiter hinten lädt eine hölzerne Bank am kleinen Teich zum Verweilen ein. Doch die 49-Jährige hat keine Augen für diese Idylle. Ihr Blick wandert vielmehr in eine unbestimmte Höhe. "72 Meter hoch soll der Mast sein. Unglaublich", sagt sie und schüttelt den Kopf. Schon jetzt steht in etwa 100 Meter Entfernung vom Haus ein 42 Meter hoher Strommast. Die dazugehörige 110-kV-Leitung tangiert soeben das Grundstück der Niemeyers.

Im April des vergangenen Jahres bekam die Familie Besuch von einem Mitarbeiter der RWE-Tochter Amprion, die mit dem Bauvorhaben beauftragt ist. Dieser erklärte, so Harald Niemeyer, die neue 380-kV-Leitung würde auf exakt der gleichen Trasse verlaufen, lediglich in größerer Höhe. Als Entschädigung für den Wertverlust des Grundstücks bot der Mitarbeiter 29.900 Euro an. "Er sagte, das sei schon mehr als das, was uns eigentlich zustünde und drängte auf eine Unterschrift unter dem Vertrag", erinnert sich Niemeyer. Der 50-Jährige wollte schon unterschreiben, dann aber entschieden er und seine Frau sich anders. Zu ihrem Glück. Denn als sie im Fe-bruar Einblick in die tatsächlichen Planungen nahmen, stellten sie fest, dass die Plantrasse verlegt worden war und nun quer über das Grundstück verläuft.

"Ich habe keine Option für die Zukunft mehr", sagt Harald Niemeyer. Er hat Zeichnungen angefertigt und fährt mit dem Zeigefinger den Verlauf der Trasse entlang. "Wenn die Leitung durchhängt, ist sie keine zehn Meter von unserem Schlafzimmer entfernt", sagt er und fragt sich: "Was passiert, wenn es Blitzeis gibt oder bei Sturm etwas beschädigt wird?"

Die Niemeyers wollen sich nicht mit dem Gedanken anfreunden, ihr Leben unter einer bei Regen, Nebel oder Frühtau stets knisternden und bis zu 90 Grad heißen Leitung zu verbringen, zumal sie unter anderem durch die elektromagnetische Strahlung sowie die statische Aufladung der Luft erhebliche gesundheitliche Beeinträchtigungen befürchten. Doch gibt es eine Alternative?

"Wir haben über Jahre jeden Cent in dieses Haus gesteckt, es energetisch in einen erstklassigen Zustand versetzt, unter anderem eine Fotovoltaikanlage und ein Regenwasserrückhaltebecken installiert", erklärt Harald Niemeyer. Natürlich habe man bereits daran gedacht, das Haus zu verkaufen oder zu vermieten. "Doch wer will schon auf einem Grundstück leben, über dem eine 380 -kV-Leitung verläuft und das direkt an der B 68 liegt", fragt er und kennt die Antwort - niemand. Selbst die drei Kinder der Niemeyers haben bereits abgewunken.

Kerstin und Harald Niemeyer können also wählen: entweder das Haus weit unter Preis zu verkaufen oder sich den Belastungen von 380 000 Volt auszusetzen. Zunächst aber werden sie kämpfen. Ihr Anwalt hat im Rahmen des Planfeststellungsverfahrens bei der Stadt Halle Einwendungen geltend gemacht. "Dort aber scheint man sich überhaupt nicht für uns zu interessieren", sagt Kerstin Niemeyer. Sie und ihr Mann sind bereit, gegebenenfalls zu klagen. Es bleibt ihnen keine andere Wahl.


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