Der Skandal, der sich daraus entwickelte, war an Dramatik nicht zu überbieten: Es ging um Milliarden und Manipulationen. Um verschleppte Ermittlungen und einen zeitweise verschollenen Finanzchef. Und um persönliche Dramen, als sich ausgerechnet der ermittelnde Kriminalhauptkommissar, ausgezeichnet mit dem Preis für Business Crime Control oder dem Orden für den aufrechten Gang, auf eine Liaison mit der Ehefrau des Hauptbeschuldigten, dem Balsam-Finanzchef, einließ. Die Urteile sind längst gesprochen, selbst die Haftstrafen schon verbüßt. Und jetzt, 20 Jahre später, ist noch das Konkursverfahren über das Vermögen der Balsam AG aufgehoben worden. Das letzte Kapitel.
Das Aktenzeichen war bis zuletzt dasselbe, mit dem die juristische Bewertung 1994 begann: 6N 116/94. Als das Konkursverfahren im Juli 2009 eröffnet wurde, standen Forderungen von 1,98 Milliarden Euro einem Vermögen von zehn Millionen Euro gegenüber. Angedacht war, das verbliebene persönliche Vermögen des damaligen Firmenchefs Friedel Balsam noch vor Jahresfrist zu verteilen. Letztlich brauchte es fast fünf Jahre. Der Grund dafür ist jedoch mehr als plausibel: Nachdem zunächst die Forderungen ehemaliger Arbeitnehmer oder Finanzämter Priorität hatten, mussten darüber hinaus rund 700 weitere Gläubiger befriedigt werden, viele von ihnen mit einem Unternehmenssitz im Ausland. Ein ganz beträchtlicher Aufwand.
Die Geschichte begann in den 1960er Jahren. Mit einer Schreibmaschine, einem kleinen Laster und 7000 Mark, die sich Friedel Balsam geliehen hatte. Dabei ging es für den Jungunternehmer zunächst steil bergauf. „Wir bereiten dem Sport den Boden” lautete bald das Motto, als das Unternehmen mit Sitz an der Queller Straße Sportstätten mit Kunstrasen und Belägen ausstattete und in den 1980er Jahren schließlich zum globalen Marktführer seiner Branche avancierte. In kurzer Zeit hatte Balsam mehr als 20 Mitbewerber übernommen. Selbst namhafte Großbanken, fasziniert und geblendet von den Erfolgen, waren als stille Teilhaber bei der Balsam AG eingestiegen. Die Kosten, sagte Friedel Balsam während des Prozesses vor dem Bielefelder Landgericht später aus, habe er irgendwann nicht mehr im Blick gehabt. Und sein Finanzchef Klaus Schlienkamp ergänzte: „Das Unternehmen war auf Sand gebaut.”
Gefälschte Rechnungen
Mit Hilfte des sogenannten Factoring, das die Balsam AG gemeinsam mit Europas größter Vorfinanzierungsfirma Procedo (Wiesbaden) praktizierte, besorgte sich der Sportbodenhersteller Kapital in gigantischem Ausmaß. Kapital, das mit den kleinen Aufträgen, die Balsam in Wirklichkeit erhielt, nicht zu verdienen war - und das funktionierte so: Erhielt die Balsam AG einen Auftrag, wurden dafür am Ende zwei Rechnungen geschrieben: Eine Rechnung, die korrekte, ging an den Kunden. Eine zweite (gefälschte) Rechnung, eine mit gigantisch erhöhtem Auftragswert, erhielt die Procedo. Teilweise wurden die Original-Rechnungen fatal dilettantisch mit Tipp-Ex verändert und oftmals nur per Fax nach Wiesbaden übermittelt! Im Gegenzug erhielt die Balsam AG von der Procedo einen Kredit über eine Summe, die der Scheinrechnung sehr nahekam. Balsam nahm dieses Geld, um mit der Differenz zwischen echter und gefälschter Auftrags-summe an den Devisen- und Wertpapiermärkten zu spekulieren. Und Finanzchef Klaus Schlienkamp war damit immerhin so erfolgreich, dass nicht nur die weltweit 1600 Mitarbeiter bezahlt werden konnten, sondern vor allem für die vier Vorstandsbosse Balsam, Schlienkamp, Horst Bert Schultes und Dietmar Ortlieb Gehälter in Millionenhöhe übrig blieben. Bis zu dem Augenblick, als ein Generalbevollmächtigter aus dem Geschäft aussteigen wollte und - anonym - Anzeige erstattete.
Zielfahnder griffen zu
„Holen Sie sich die für Sie bestimmten vertraulichen Informationen aus dem Schließfach im Bahnhof Bielefeld mittels beiliegendem Schlüssel.” - Mit diesem legendären Satz setzte der Mitarbeiter, der später zu sechs Jahren Haft verurteilt wurde, die Staatsanwaltschaft Bielefeld, Schwerpunkt Wirtschaftskriminalität, von den Akten in Kenntnis. Doch die reagierte genauso wenig wie die ebenfalls informierten Nachrichtenmagazine Stern und Spiegel. Im Herbst 1993, etwa neun Monate später, wandte sich der Informant dann direkt an die Bielefelder Kriminalpolizei und stieß auf offene Ohren. Der zuständige Ermittler ließ fortan nicht mehr locker. Immer wieder sprach er bei der Staatsanwaltschaft vor, recherchierte - teils auf eigene Faust - im Ausland und deckte immer mehr Ungereimtheiten auf.
Im Juni 1994 wurde in der Fernsehsendung »Frontal« zunächts anonymisiert über den Fall Balsam berichtet, zwei Tage später machte unsere Zeitung den Fall öffentlich: Plötzlich ließ der zuständige Oberstaatsanwalt, der noch im selben Jahr vom Dienst suspendiert wurde, die Firmenräume durchsuchen. Außerdem wurden neben Klaus Schlienkamp auch Firmenchef Friedel Balsam und die beiden Vorstandsbosse Schulte und Ortlieb festgenommen. Die Balsam AG indes meldete Konkurs an.
Der Vorwurf, der später in einer 875 Seiten umfassenden Anklageschrift konkretisiert wurde: Schädigung von 45 Refinanzierungs- und Hausbanken durch das Factoring von Phantomgeschäften in einem Umfang von rund 1,7 Milliarden Mark. Schlienkamp legte als einziger Beschuldigter ein Geständnis ab. Nachdem das Mammutverfahren am 26. April 1996 zunächst unter dem Vorsitzenden Richter Bodo Wabnitz eröffnet wurde und im Laufe des dreieinhalbjährigen Prozesses rund 250 Zeugen vernommen wurden, tauchte Schlienkamp im November 1998 unter. Erst nach fast eineinhalbjähriger Flucht griffen die Zielfahnder am 28. März 2000 auf der philippinischen Insel Cebu zu und überführten den Angeklagten zurück nach Deutschland. Schlienkamp wurde am 20. September 1999 zu zehn Jahren Haft verurteilt, Friedel Balsam zu acht Jahren. Weitere Beteiligte erhielten Haft- beziehungsweise hohe Geldstrafen. Und jetzt ist das letzte Kapitel geschlossen.
Von Nicole Donath
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