Trivan Uzunow hat ein Prinzip: immer nach vorne schauen und weitergehen - nie zurück. Mit dieser Lebenseinstellung hat es der 49-Jährige in nur wenigen Jahren geschafft, in einem Land Fuß zu fassen, dessen Sprache, Kultur und gesellschaftliche Regeln ihm fremd waren. Und: Er hat auch seiner Frau, seiner Tochter und seiner Enkelin den Aufbruch in ein neues Leben ermöglicht. Die Familie Uzunow stammt aus Bulgarien - und gehört damit genau zu den Einwanderern, denen seit Wochen in öffentlichen Debatten Missbrauch der deutschen Sozialsysteme vorgeworfen wird. Wie wenig dieses Vorurteil mit der Realität zu tun hat, bestätigt nicht nur Versmolds Integrationslotse Johann Jendryczko; ein kurzes Gespräch mit Familie Uzunow reicht, um den Eindruck zu unterstreichen.
2009 kam Trivan Uzunow nach Deutschland. Alleine - um Geld zu verdienen und endlich eine feste Stelle zu haben, sagt er. In Beelen packte er beim Agrarhandel Agrata Kartoffeln. Über eine Leiharbeitsfirma, die den landwirtschaftlichen Facharbeiter in seiner Heimat angeworben hatte, war das Arbeitsverhältnis zustande gekommen. 2010 sah er sich aus gesundheitlichen Gründen nach einer anderen Stelle um und tat - das hört man aus jedem seiner Worte heraus - einen Glücksgriff.
Beim Milchviehbetrieb Witte in Bockhorst bekam er die Möglichkeit zum Probearbeiten und bald schon einen festen Arbeitsvertrag, der wiederum eine unbefristete Aufenthalts- und Arbeitserlaubnis nach sich zog. „Ich bin seit 2010 bei Witte und in dieser Zeit nicht einen einzigen Tag krank gewesen”, sagt Trivan Uzunow, der die Ressentiments gegen ihn und seine Landsleute betrübt zur Kenntnis nimmt.
Durch die sicheren Lebensverhältnisse konnte er auch Ehefrau Anna nach Deutschland holen, mit der er in Siedinghausen eine Wohnung bezog. Die Antwort auf die Frage, warum das Paar den schweren Schritt machte, Familie, Freunde und die Heimat hinter sich zu lassen und ins Unbekannte zu ziehen, erklärt Trivan Uzunow kurz und knapp: „In Bulgarien gibt es immer nur für ein paar Monate Arbeit. Dann findet man zwar wieder einen Job, der endet aber nach einigen Tagen schon wieder, und so geht es immer weiter”, sagt der 49-Jährige, der inzwischen ganz passabel deutsch spricht. „In Bulgarien sind viele korrupt, es gibt keine Zukunft und keine festen Zusagen”, sagt er.
»Fest« ist das Wort, das Trivan Uzunow gerne gebraucht, wenn er von Deutschland spricht. Ein fester Vertrag, auf den man sich verlassen kann. Eine feste Arbeitsstelle, mit der man planen kann. Und feste Zusagen, auf die man bauen kann. „In Deutschland ist alles perfekt; die Menschen sind nett und sie beachten die Regeln”, ergänzt seine Tochter Svetlana Syumbeli und gerät beinahe ins Schwärmen.
Obwohl sie erst seit einem Jahr in Versmold lebt, hat die 26-Jährige ihren Vater mit ihren Sprachkenntnissen bereits überholt. Denn im Gegensatz zu ihm musste sie Deutsch nicht nebenbei auf der Arbeit lernen. Seit März 2013 besucht sie einen Integrationskurs am CJD. In wenigen Wochen endet der 600-stündige Lehrgang, der aus einem Sprach- und einem Orientierungslehrgang besteht. Dann möchte die junge Frau gerne ein Praktikum in einem Friseursalon machen, um ihrem Traum Friseurin zu werden, ein Stück näher zu kommen.
Integrationslotse Jendryczko hat versprochen, ihr bei der Suche zu helfen. So wie er der jungen Mutter und ihrer sechs Jahre alten Tochter Alina auch bei der Wohnungssuche unter die Arme gegriffen hat. „Ohne ihn hätten wir das hier alles nicht geschafft”, sagt Svetlana Syumbeli und lächelt Johann Jendryczko an, der jedoch sofort bescheiden abwinkt.
Nach der Scheidung von ihrem Mann ist die 26-Jährige aus Bulgariens Hauptstadt Sofia zu ihren Eltern nach Deutschland gekommen - rechtzeitig zum Beginn des Integrationskurses. Nachdem alle Sorgerechtsfragen geklärt waren, konnte sie auch zum Start des Schuljahres endlich ihre Tochter nachholen. Alina besucht die erste Klasse der Sonnenschule und zählt auf die Frage, ob sie dort schon Freundinnen habe, gleich eine ganze Reihe Namen auf. Und auch alle weiteren Fragen beantwortet sie fröhlich - auf Deutsch, darauf legt ihre Mutter großen Wert.
Ob sie manchmal trotz allem Heimweh nach Bulgarien haben? Trivan Uzunow schüttelt den Kopf und scheint fast ein bisschen verblüfft über die Frage. „Nein”, sagt er, „zurück gibt es bei mir nicht - ich schaue immer nur nach vorne.” (Silke Derkum)
↧