Von Silke Derkum
Versmold-Bockhorst. Die allererste Erinnerung seines Lebens ist die eines lachenden russischen Soldaten. Hartmut Rüß ist etwa dreieinhalb Jahre alt, als am 3. Mai 1945 die russische Armee in sein Heimatdorf in Mecklenburg einmarschiert. Und obwohl sich angesichts des schlechten Rufes, der den Russen vorauseilt, um ihn herum starre Erwartungsangst ausbreitet, hat Hartmut Rüß nur positive Erinnerungen. "Der Soldat hat mich auf den Arm genommen, gelacht und mich getätschelt", sagt er und will nicht ausschließen, dass dieses Bild sein weiteres Leben geprägt hat. Als Professor für osteuropäische Geschichte hat Hartmut Rüß viel Zeit in Russland verbracht. Ende April war er auf einem Kongress in Jekaterinburg, mit dem das Kriegsende, der »Tag des Sieges«, gefeiert werden sollte - und er hatte eine Botschaft.
Auf ganz unterschiedliche Weise bewerteten die Menschen, denen der Bockhorster auf dem Kongress im Ural begegnete, die Kriegsgeschehnisse. Und er traf viele: Gestandene Offiziere, behangen mit glänzenden Orden und goldfarbenen Kordeln, die das offizielle Russland verkörperten. Pensionierte Lehrerinnen, die spontan ein positiv gefärbtes Gedicht für den Professor aus Deutschland verfassten. Oder die couragierten Kollegen von der Historischen Fakultät der Ural-Universität, die Hartmut Rüß nach Jekaterinburg eingeladen hatten mit der Begründung, sie wollten zum 70. Jahrestag des Kriegsendes nicht nur Hurrapatriotismus.
Dass unter den 150 russischen und internationalen Historikern auch Personen waren, die den Krieg nicht aus der Perspektive der Sieger bewerteten, sondern von den dunklen und vielfach tabuisierten Aspekten berichteten, hat Hartmut Rüß gefreut und beeindruckt. "Es gab zum Beispiel zwar 34 Vorträge, in denen es um Erziehung zum Patriotismus ging", berichtet Rüß, aber auch zwei Vorträge über die Kriegsverbrechen der Alliierten - einschließlich der Sowjetunion - oder über die Behandlung deutscher Zwangs-arbeiter in Russland waren immerhin zu hören. "Ich werte das als Zeichen dafür, dass das öffentliche Meinungsbild in der russischen Gesellschaft differenzierter ist, als es in Russland selbst und bei uns dargestellt wird", sagt Rüß.
Auch die Tatsache, dass er als einziger Redner bei der Eröffnungsveranstaltung sprechen durfte, ohne vorher irgendjemandem sein Manuskript zu zeigen, hat Hartmut Rüß beeindruckt. "Und das, obwohl zu erwarten war, dass mein Vortrag nicht die Heldenhaftigkeit der russischen Sieger zum Thema haben würde."
»Der lange Schatten des Krieges« lautete der Titel des Beitrags des 73-Jährigen, und er erzählte darin, wie sich der Zweite Weltkrieg, der in Russland »Großer vaterländischer Krieg« genannt wird, auf sein Leben und das seiner Familie ausgewirkt hat. "Mir ging es nicht darum, Leid gegeneinander aufzurechen - das steht uns nicht zu", sagt Rüß. Das unendliche Leid, das auf beiden Seiten geschehen sei, sei eher etwas, das Russland und Deutschland verbinde.
Aber bei offiziellen Gedenken verschwinde in Russland diese Seite des Krieges oft hinter Paraden und Patriotismus. So sei es beispielsweise eine Art Ritual gewesen, dass jeder Redner zunächst den anwesenden Veteranen für ihre Heldentaten dankte. Von einem Vertreter des besiegten Deutschlands wurde das nicht erwartet. "Aber wenn, dann hätte ich einfach gesagt »Ich freue mich, dass Sie den Krieg alle überlebt haben und hier sind«", sagt Rüß.
Doch auch ohne Honneurs: Sowohl die Veteranen als auch die übrigen Zuhörer reagierten positiv auf die diplomatisch verpackte Kritik des Münsteraner Professors. Die lag ihm vor allem vor dem Hintergrund der momentanen Patriotismuswelle im Zuge der Krimbesetzung am Herzen. "Ich habe die deutsche Geschichte als Beispiel dafür genommen, dass ein zunächst vielleicht gesunder Patriotismus sehr leicht zu Inhumanität führen kann", sagt Hartmut Rüß. Und auch, dass Machtstreben nicht immer zum Wohl des Volkes sei, könne man an der deutschen Geschichte sehen. Seine Kritik, so hat Rüß wohltuend bemerkt, tat der gespannten Aufmerksamkeit während seines Vortrages und der anschließenden Zustimmung einiger Zuhörer aus dem Plenum keinen Abbruch.
"Ich hatte das gute Gefühl, dass ich dort willkommen war", sagt Hartmut Rüß und zeigt sich - wie seit Jahren - beeindruckt von der russischen Gastfreundschaft und Herzlichkeit: "Und das trotz der tragischen Geschichte, die Russland und Deutschland verbindet."