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Als der Tod in die Stadt kam

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Von unserem Gastautor Dr. Richard Sautmann

Versmold.
Annähernd zehn Millionen Menschenleben sollte der Erste Weltkrieg fordern, dazu zählte man rund 20 Millionen Verwundete - zwischen 1914 und 1918 versank der europäische Kontinent in ein bis dato nicht gekanntes Blutmeer. Aber nicht nur an den Fronten, auch in der Heimat hielt der Tod reiche Ernte. Im letzten Kriegsjahr 1918 brach die sogenannte "Spanische Grippe" aus, eine Pandemie, die durch einen außerordentlich virulenten Abkömmling des Influenzavirus verursacht wurde und weltweit deutlich über 20 Millionen Todesopfer forderte.

Versmold am 9. November 1918, ein wolkenverhangener, trüber und nebliger Tag brach an. Zur frühen Stunde wusste man es noch nicht, aber dies war der letzte Tag des Deutschen Kaiserreichs, dieser Tag wurde zum Auftakt für den Waffenstillstand, und vor allem war dies ein Tag, an dem der Tod mit aller Gewalt ins zivile Leben trat.

Für den Versmolder Pfarrer Matthias Schmitz jedenfalls wurde der 9. November 1918 zu einem der schwersten Tage in der Geschichte des Weltkrieges. Acht Menschen sollte er an diesem Tag beerdigen, und allesamt waren sie der »Spanischen Grippe« zum Opfer gefallen.

Vor der Spanischen Grippe gab es keinen Schutz, denn durch die Fehl- und Mangelernährung der Kriegsjahre verursacht, fehlte es mittlerweile auch der Zivilbevölkerung an Widerstandskraft. Allein in Versmold forderte die heimtückische Krankheit im Herbst des Jahres 1918 etwa 70 Todesopfer.

So traf das Sterben des Weltkrieges, das bis dahin fernab des zivilen Lebens in den Schützengräben Russlands und Frankreichs regiert hatte, nun auch die Zivilbevölkerung. Besonders tragisch und ergreifend war die Beisetzung einer ganzen Familie aus Loxten-Stockheim am letzten Kriegstag, dem 9. November. Fassungslos sahen die Trauergäste zu, als die vier Särge mit Vater, Mutter, Tochter und Sohn um das Friedhofskreuz geführt und dann sternenförmig abgestellt wurden. Keine Frage, der Tod hatte die Welt der Lebenden fest in seinen Griff genommen. Pfarrer Schmitz, der die Beisetzung leitete, notierte:

"Unauslöschlich blieb auch eingeprägt der Augenblick, als die vier Särge in ein gemeinsames Grab gesenkt wurden. Da blieb kein Auge trocken, und man spürte, wenn auch im andern Sinn, etwas davon: Es gibt im Leben ein Herzeleid, das ist wie die weite Welt so weit, das ist wie Bergeslasten schwer, das ist so tief, wie das tiefe Meer!"

Doch damit war das Drama des Tages noch nicht beendet. Schmitz notierte weiter: "An demselben Tag bettete ich noch vier weitere Leichen zur Ruhe des Grabes: Eine junge Frau von 30 Jahren, eine Kolonenfrau mit ihrer Tochter, ebenfalls in ein gemeinsames Grab, und zudem einen müden Pilger von 73 Jahren.

Inzwischen war es Abend geworden. Nasse Nebel lagerten auf der weiten Ebene. Körperlich und seelisch müde kam ich im Pfarrhaus an. Dort traf mich die Kunde, die von Deutschlands Untergang sprach".

Von Deutschlands Untergang kann im Blick auf die Ereignisse jenes Tages allerdings nicht wirklich die Rede sein. Tatsächlich markierte der 9. November 1918 nicht mehr und nicht weniger als den Untergang der deutschen Monarchie und die Geburt der ersten deutschen Republik.

Reichskanzler Max von Baden verkündete gegen Mittag die Abdankung des Kaisers und Königs. Zwar hatte Wilhelm II. dem gar nicht zugestimmt, aber dennoch zog es ihn nun nach Art eines Fahnenflüchtigen nach Holland ins Exil.

Damit stand an jenem Tag in Wahrheit die Demokratisierung Deutschlands auf der politischen Agenda. Friedrich Ebert übernahm das Amt des Reichskanzlers und der stellvertretende Vorsitzende der SPD Philipp Scheidemann verkündete unmittelbar darauf die deutsche Republik.

Zwei Tage später unterzeichnete der Zentrumsabgeordnete Mathias Erzberger auf Anweisung Hindenburgs den Waffenstillstand von Compiègne. Die Vertragsbedingungen waren hart, ja ungerecht und sie bargen den Keim eines weiteren Weltenbrandes. Aber dennoch war nun endlich das Ende des Ersten Weltkrieges gekommen.

Der Versmolder Dr. Richard Sautmann ist Historiker und freiberuflicher Autor. Nach dem Magisterstudium an der Universität Oldenburg und Forschungen zur Sozialgeschichte des Ersten Weltkrieges wurde er mit einer Dissertation zu Fragen der ländlichen Alltags- und Sozialgeschichte promoviert. Als Archivar und Stadthistoriker publizierte er eine Fülle von Buchprojekten.


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