Von Andreas Großpietsch
Borgholzhausen.
"Es war einmal Frau Linse, die hatte sieben Kinder. Und sie waren so arm, dass sie kein eigenes Zimmerchen hatten, sondern einen Mehrzweckraum in einer großen Turnhalle benutzen mussten." So wenig märchenhaft klingt es, wie sich der Beginn eines großen gesellschaftlichen Wandels in Borgholzhausen vollzogen hat. Vor 20 Jahren wurde die Idee der Randstundenbetreuung umgesetzt, vor zehn Jahren kam der Offene Ganztag hinzu. Am Freitag, 12. September, wollen die beiden Einrichtungen der Grundschule Gräfin Maria Bertha ihre runden Geburtstage ab 15 Uhr zusammen mit einem großen Fest feiern.»Frau Linse« heißt vollständig Ute Linse und ist gelernte Sportlehrerin. Als sie nach der Familienphase - ihre Söhne waren da der Grundschule entwachsen - wieder in den Beruf einsteigen wollte, gab es kein Angebot, außer dieser exotisch klingenden Idee einer Randstunde für Grundschulkinder. "Das war etwas ganz Neues damals. Einige Eltern waren auf die Stadt zugegangen und die hat an beiden Grundschulen in Borgholzhausen Einrichtungen geschaffen", erinnert sie sich.
"Als wir anfingen, sind die Eltern mit schlechtem Gewissen gekommen", erzählt sie. "Doch für die Kinder war es ein Mehr, kein Muss", erklärt die Pädagogin. Die genossen die Zeit zum Spielen mit den Freunden in den Stunden, in denen zwischen 7.30 und 13.30 Uhr kein Unterricht war. "Die Kinder kommen entspannt nach Hause, nicht gestresst", ist sich Ute Linse sicher.
Offenbar sprach sich das neue Angebot in Elternkreisen rasch herum und fand fast märchenhaften Zuspruch. Bereits im dritten Jahr war die Sollstärke von 25 Kindern erreicht. Das freute natürlich auch den Anbieter der neuen Dienstleistung, den AWO-Kreisverband Gütersloh, der bis heute für die Betreuung von Kindern in der Schule außerhalb der Unterrichtszeiten zuständig ist. Und aus dessen Ein-Frau-Unternehmen ein beachtliches Team mit acht pädagogischen und einer hauswirtschaftlichen Mitarbeiterin geworden ist. Immerhin 32 Kinder besuchen auch heute noch an der Gräfin-Maria-Bertha-Grundschule täglich die Randstunde.
Und das, obwohl die große Politik dieses Projekt eigentlich schon fast wieder abgeschrieben hat. Das Land hat sich aus der Förderung verabschiedet, die Kosten tragen die Gemeinden. Jedenfalls die, die es sich leisten können oder leisten wollen. "Es gibt Kreise, in denen es kein Randstundenangebot mehr gibt", weiß Ute Linse. Denn vor genau zehn Jahren wurde auch in Borgholzhausen die vermeintlich übermächtige Konkurrenz eingeführt: der Offene Ganztag.
Von 7 bis 17 Uhr werden die Kinder dort betreut - und nicht nur das. Dazu gehört das warme Mittagessen ebenso wie das Hausaufgabenmachen. Aber auch die Zusammenarbeit mit Kooperationspartnern von außerhalb der Schule in Bereichen wie Kunst und Sport, Musik und Ernährung, aus denen die Kinder selbst nach Interesse wählen können.
Ulrike Wolff ist vom ersten Tag an dabei: "Wir hatten vom Start 26 Kinder", erzählt sie von guten Voraussetzungen. Die bestanden in den sogenannten Horten in den Kindergärten, die nach Schulschluss eine Betreuung für Schulkinder angeboten hatten, die über den Randstundenbereich hinausging. Mit dem Ganztag fiel das natürlich weg. Heute sind es 80 Kinder, die von montags bis freitags in der OGS betreut werden. Auch an den sogenannten beweglichen Feiertagen und nicht wenige sogar in den Ferien.
Die stetig steigende Inanspruchnahme hat verschiedene Gründe, das ist auch Ulrike Wolff und Ute Linse klar. Natürlich gibt es Wünsche nach Selbstverwirklichung im Beruf und auch ganz generell ein geändertes Rollenbild. Doch für ganz viele Eltern stellen sich gar keine weltanschaulichen Fragen, sondern geben schlichte Notwendigkeiten den Ausschlag. Auch mit zwei Gehältern sind Familien selten von materiellem Überfluss bedroht. Meist reicht ein Verdiener schlicht nicht mehr aus, um für einen angemessenen Lebensstandard zu sorgen.
Nicht mit dieser rasanten Entwicklung Schritt halten konnten meist die Raumangebote. Nicht nur in Pium ist es eng in der OGS, sondern fast überall sind die Verantwortlichen überrascht von der Nachfrage. Trotzdem wird über den nächsten logischen Schritt, den Gebundenen Ganztag, bei dem die Teilnahme Pflicht ist, nachgedacht. Ins Reich der Märchen sollte man diese Idee jedenfalls nicht verweisen.